Wer sagt, dass Bürgerbeteiligung automatisch von Vorteil ist? Sie setzt Informiertheit und Tatkraft voraus. Und genau darin liegt das Problem. Denn zur öffentlichen Meinungsbildung kann am besten beitragen, wer die politischen Spielregeln beherrscht.
Wer Demokratie sagt, meint Partizipation. Ohne Beteiligung verliert der Begriff Demokratie jede Bedeutung, denn erst die Beteiligung der Bürger ermöglicht eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk. Ein Mangel an politischer Beteiligung gilt somit generell als schädlich für die Demokratie. Aber bedeutet mehr Partizipation zwangsläufig auch mehr Demokratie? Oder umgekehrt: Kann man die Demokratie festigen, indem man Partizipation fördert?
Mit dem Aufstieg linker und rechter populistischer Strömungen haben diese Fragen neue Brisanz erhalten. Verdient es keine Anerkennung, dass populistische Politiker und Parteien die Demokratie stärken, indem sie zumindest einen Teil der bisher passiven Bürgerinnen und Bürger dazu bringen, sich politisch zu engagieren? Diese Frage sollte man verneinen, solange unklar ist, inwieweit die neu angeworbenen aktiven Bürgerinnen und Bürger auch demokratische Grundprinzipien unterstützen. Die oft fremdenfeindliche, intolerante, rassistische und ignorante Natur populistischer Strömungen deutet bereits auf einige Probleme in diesem Bereich hin.
Unbegrenztes Repertoire
Gleiche Zugangsmöglichkeiten für alle Bürgerinnen und Bürger und eine breite Unterstützung demokratischer Grundprinzipien gehören zu den Lebensbedingungen jeder Demokratie. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen wird erleichtert durch die ständige Erweiterung der Möglichkeiten, sich politisch zu beteiligen. Das Repertoire politischer Partizipation ist mittlerweile nahezu unbegrenzt und umfasst Aktionen, die von Wahlen, Demonstrationen, Bürgerbefragungen, Unterschriftensammlungen, Gerichtsklagen und Bürgerinitiativen über das Blogging bis hin zum Kauf fairer Produkte oder zum Bepflanzen öffentlicher Flächen reichen. Damit steigen auch die Chancen, dass bisher wenig aktive Bevölkerungsgruppen sich engagieren.
Trotz der Bedeutung von Partizipation für die Demokratie ist die tatsächliche Beteiligung auch in etablierten Demokratien eher bescheiden. Die meisten Bürgerinnen und Bürger beschränken sich auf den Gang zur Wahlurne. Dazu kommt, dass bestimmte Teile der Bevölkerung die Möglichkeiten demokratischer Partizipation überhaupt nicht nutzen. Demokratie und Partizipation haben deswegen eine schwierige Beziehung: Demokratie setzt Partizipation voraus, aber die Partizipationsmöglichkeiten werden vorwiegend von ohnehin privilegierten gesellschaftlichen Gruppen genutzt.
"Immer Gesetze befolgen"
Ständig wachsende Partizipationsmöglichkeiten sind nur dann erfreulich, wenn sie von einer klaren Unterstützung demokratischer Grundprinzipien begleitet werden. Diese Voraussetzung erscheint erfüllt zu sein: Politisch aktive Bürgerinnen und Bürger zeichnen sich durch eine deutlich überdurchschnittliche Zustimmung zu demokratischen Tugenden aus. Die Unterstützung demokratischer Tugenden bemisst sich hierbei an der Frage, inwieweit eine "gute Bürgerin" oder ein "guter Bürger" durch Gesetzestreue, Solidarität, Wahlbeteiligung, Vereinsaktivitäten, die Bildung eigener Standpunkte oder politisches Engagement gekennzeichnet sein sollte. Diese Fragen haben wir der deutschen Bevölkerung in einer repräsentativen Umfrage vorgelegt. Die Aussage, "man sollte immer die Gesetze und Verordnungen befolgen", wird hierbei von politisch aktiven und passiven Teilen der Bevölkerung in etwa gleichem Maß unterstützt. Auch über die Bedeutung von Vereinsaktivitäten besteht durchaus Konsens. So weit die guten Nachrichten.
Natürlich ist es nicht überraschend, dass es zwischen Wählern und Nichtwählern sehr große Meinungsunterschiede bezüglich der Frage gibt, ob eine gute Bürgerin oder ein guter Bürger sich an Wahlen beteiligen sollte. Auf ähnliche Weise unterstützen insbesondere Befragte, die sich politisch engagieren, die Aussage, "man sollte politisch aktiv sein". Passive wiederum unterstützen genau diese Tugend nur eingeschränkt. Solch klare Zusammenhänge zeigen, dass Unterstützung für bestimmte Tugenden und tatsächliches Verhalten durchaus im Einklang stehen. Interessanter werden die Befunde allenfalls, wenn man politisch engagierte Bürgerinnen und Bürger mit eher passiven Teilen der Bevölkerung vergleicht.
Ein derartiger Vergleich führt zu gemischten Nachrichten. Politisch passive Bürgerinnen und Bürger kennzeichnen sich durch eine deutlich geringere Unterstützung mancher demokratischer Tugenden. Im Durchschnitt liegt ihre Befürwortung von Tugenden wie "Menschen unterstützen, denen es schlechter geht als einem selbst", "an Wahlen teilnehmen" oder "sich unabhängig von anderen eine eigene Meinung bilden" erheblich unter jener für andere Bevölkerungsgruppen. Partizipation geht also offensichtlich mit einer Verzerrung hinsichtlich der Unterstützung wichtiger demokratischer Tugenden einher. Insgesamt erhalten diese Tugenden in politischen Auseinandersetzungen stärkere Unterstützung, da sie von denjenigen, die sich an solchen Auseinandersetzungen beteiligen, besonders betont werden. Eine Mobilisierung passiver Teile der Bevölkerung würde folglich zu einer geringeren Unterstützung demokratischer Tugenden in politischen Auseinandersetzungen führen.
Sind Partizipierende also die besseren Demokraten? Selbstverständlich erfüllen sie mit ihren Aktivitäten eine notwendige Voraussetzung: ohne Partizipation keine Demokratie. Wichtiger ist jedoch, dass Partizipierende demokratische Grundprinzipien offensichtlich deutlich stärker unterstützen als passive Bürgerinnen und Bürger. Somit fördern Partizipierende sowohl mit ihren Aktivitäten als auch mit ihren Haltungen die Demokratie. Allerdings hat auch diese Medaille eine Kehrseite. Zynisch formuliert könnte man sagen, dass politisch Passive mit ihrer Zurückhaltung der Demokratie ebenfalls einen Gefallen tun: Durch ihre Abwesenheit in politischen Auseinandersetzungen erhalten demokratische Tugenden in diesen insgesamt eine höhere Unterstützung.
Eine positive Bewertung politischer Passivität aufgrund mangelnder Unterstützung demokratischer Tugenden wäre jedoch nicht nur herabwürdigend, sondern auch gefährlich. Die immer wieder nachgewiesenen partizipatorischen Ungleichheiten zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen sind auch mit den Erweiterungen des Repertoires politischer Beteiligungsformen nicht verschwunden. Seit den 1950er Jahren bestätigt die Forschung ausnahmslos, dass politische Beteiligung ungleich verteilt ist. Insbesondere Gruppen mit höherem sozioökonomischen Status partizipieren überdurchschnittlich. Außerdem engagieren sich Männer noch immer stärker als Frauen, und vor allem junge Menschen meiden Wahlkampagnen oder parteigebundene Aktivitäten. Nicht einmal die Verbreitung von Social Media hat diese Verzerrungen abgemildert. Die schlechten Nachrichten sind somit klar: Diejenigen, die am meisten von politischer Partizipation profitieren könnten, beteiligen sich am wenigsten.
Sicherlich ist es langfristig problematisch, dass bestimmte Teile der Bevölkerung die Möglichkeiten demokratischer Partizipation konsequent negieren. Auch die Studie belegt, dass insbesondere das Bildungsniveau der Bürgerinnen und Bürger eine wichtige Determinante politischer Partizipation darstellt: je niedriger das Bildungsniveau, desto geringer die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren. Politisch Passive stellen deswegen keineswegs einen Querschnitt der Gesamtbevölkerung dar.
Was ist mit den Verlierern?
Betrachten wir nochmals die relativ geringe Unterstützung demokratischer Tugenden unter politisch passiven Bevölkerungsgruppen, dann sieht das Gesamtbild erheblich problematischer aus, als Zyniker wahrhaben möchten. Während gesellschaftlich privilegierte Gruppen überdurchschnittlich partizipieren und demokratische Grundprinzipien unterstützen, ist die Situation für weniger privilegierte Teile der Bevölkerung umgekehrt. Mit anderen Worten: Es sind im Allgemeinen gesellschaftliche Gewinner, die Demokratie praktizieren und unterstützen - dauerhafte Verlierer mögen keine Demokratie.
Was bedeuten diese Ergebnisse für die Demokratie? Zunächst ist klar, dass Demokratie und Partizipation durchaus zusammenpassen: Diejenigen, die sich politisch engagieren, zeichnen sich durch eine starke Unterstützung demokratischer Grundprinzipien aus. Eine noch stärkere Beteiligung dieser Gruppen würde somit auch die Demokratie stärken. So weit die guten Nachrichten.
Demgegenüber stellt die Mobilisierung passiver Teile der Bevölkerung eine viel größere Herausforderung für die Demokratie dar. Eine erfolgreiche Mobilisierung dieser Gruppen würde die Unterstützung demokratischer Werte insgesamt verringern. Die größte Schwäche der Demokratie ist jedoch ihre Unfähigkeit, permanente Verlierer einzubringen. Genau deswegen brauchen wir Mobilisierungsstrategien, die sich gezielt auf diese Gruppen richten, anstatt allgemeiner Maßnahmen, welche die Beteiligung von ohnehin privilegierten Teilen der Bevölkerung noch weiter verstärken.
Dieser Spagat kann der Demokratie nur gelingen, wenn Partizipation immer auch die Unterstützung demokratischer Grundprinzipien fördert. Das bedeutet - erstens -, dass demokratische Entscheidungsprozesse nur für Demokraten zugänglich sein sollten. Zweitens hat die politische Bildung nach wie vor als wichtigste Aufgabe, den unabdingbaren Zusammenhang von demokratischen Werten und politischer Beteiligung zu thematisieren und zu erklären. Drittens sollten Politiker sich für Beteiligungsverfahren einsetzen, bei denen gewährleistet ist, dass insbesondere weniger privilegierte Teile der Bevölkerung ihre politischen Kompetenzen auf demokratische Weise verbessern können.
Gekürzte Version eines Vortrags an der Universität Heidelberg
Jan van Deth
Jan W. van Deth (67) lehrte als Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mannheim.
Er ist Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozial- forschung (MZES), dessen Direktor er bis 2001 war.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem politische Orientierungen und politische Partizipation. malo (BILD: Privat)
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