Angelika ist allein zuhause. Sie traut sich nicht raus. Mittags sieht sie eine Nachbarin nachhause kommen. Mit dem Baby auf dem Arm winkt die herüber. „Das ist so schön“, erzählt Angelika am Telefon. So geht Auferstehung Ostern 2020.
Studierende sitzen bei uns in der Kirche. Die Älteren, die sonst die Kirche hüten, bleiben zuhause. Die offene Kirche ist für manche der einzige Ort, an dem sie jemand begegnen. Regina kommt jeden Tag mit ihrem Rollator hier vorbei. Sandra betet. Markus weint: „Die Mutter ist im Krankenhaus und ich darf nicht hin! Ich will sie ja nicht anstecken.“ Ein Wohnsitzloser findet die Toilette, die er dringend sucht.
So viele helfen in diesen Tagen an ungewohnten Orten. Gehen einkaufen für Ältere. Packen Essenspakete für Bedürftige. Von Beginn der Epidemie an: Eine Auferstehung der Mitmenschlichkeit! So viele bleiben zuhause aus Rücksicht. Nähen bunte Masken und tragen sie, um andere zu schützen. Die wenigen Leute in den Straßen grüßen einander ungewohnt freundlich. Aber die Nerven sind angespannt. Diese Woche auf dem Markt, eine Frau schimpft: „Sehen sie denn nicht, dass wir hier alle anstehen?“ Die ältere Dame dreht sich einfach weg und brummelt vor sich hin. Die andere empört sich weiter: „Risikogruppe! Wegen denen müssen wir zuhause bleiben. Aber die machen was sie wollen!“
Risikogruppe. Ein neues Schimpfwort. Und eine neue Idee: „Sollen die doch zuhause bleiben, dann können wir anderen nach Ostern auferstehen!“ In unser altes „normales“ Leben. Risikogruppe - Ältere, Asthmatiker, Männer, Raucherinnen, Diabetiker, Herzkranke. Menschen mit geschwächtem Immunsystem. Ärztinnen und Pflegende im Kontakt mit Infizierten. Menschen mit Behinderung. In meiner Familie, unter meinen Freundinnen und Freunde mehr als die Hälfte. Ich vielleicht auch - als Bewohnerin eines Ballungsraums mit starker Luftverschmutzung.
Ein Mann ruft mich an. Sonst kommt er jeden Tag in die Kirche, jetzt erzählt er mir, „das Haus ist zu“. Eine Einrichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Nur noch zum Arzt darf er raus. „Ich habe Verantwortung für die anderen“ meint er. „Ich bleibe im Zimmer.“ Ab diesem Wochenende gilt in Baden-Württemberg eine Ausgangssperre für Pflegeheime. Zum Schutz, damit nicht in noch mehr Einrichtungen die Krankheit ausbricht. Das sei wichtig um die sehr Alten und Kranken zu schützen. Aber wird damit nicht ein völlig unnötiges Schwarzer-Peter-Spiel begonnen? Wer entscheidet, wer Risikogruppe ist und wer nicht? Viele fordern in diesen Tagen: „Wir müssen jetzt endlich über ein Ausstiegsszenario nachdenken, damit das ‚normale Leben‘ wieder losgeht.“ Manche verzweifeln vor Sorgen um das Geschäft, die berufliche Existenz, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Familie, der kleine Laden um die Ecke. Es muss endlich wieder losgehen, wegen der Wirtschaft.
Dennoch: Rücksicht und Mitmenschlichkeit sind alles andere als ‚obrigkeitliche Untertänigkeit‘. Die Idee, man könne alle wegsperren, die zu den Risikogruppen gehören, ist menschenverachtend und spaltet die Gesellschaft. Es geht nicht um Minderheiten oder Randgruppen: 25 Prozent der Bevölkerung sind über 60. Neun Prozent Diabetiker. 25 Prozent der Bewohner von Ballungsgebieten Asthmatiker.
Jede Krise, jede Katastrophe gebiert sofort die Frage nach der Schuld. In den ersten Wochen der Coronakrise waren die Chinesen schuld, dann die Italiener und Boris Johnson ist eh selbst schuld. Die Regierung die nichts tut. Die Regierung die zu viel tut. Und jetzt: die Risikogruppen.
Wenn wir Schwarzer Peter spielen, geht es immer darum, einander die Karte mit dem kleinen Schornsteinfeger zuzuschustern. In der Ostergeschichte passiert das Gegenteil: Jesus nimmt den Schwarzen Peter. Er nimmt die Schuld auf sich. Er übernimmt die Verantwortung. Damit verändert sich die Dynamik des Spiels. Unser Gegeneinander wird zum Miteinander: Die Schuldzuweisungen hören auf - wenn wir wollen. Daraus entsteht eine große Freiheit.
Christen leben in der Nachfolge Jesu. Wir sind frei zu handeln. Dietrich Bonhoeffer hat die Freiheit der Nachfolge gelebt, ohne wenn und aber. Der Theologe und Widerstandskämpfer starb vor 75 Jahren - ermordet auf persönlichen Befehl Hitlers. Bonhoeffer gehörte zur Verschwörung gegen Hitler. Er entwickelte eine theologische Begründung für den Tyrannenmord, für das Attentat auf Hitler. Er hat Jesus so verstanden: Ich bin frei zu handeln und muss immer damit rechnen, schuldig zu werden. Ein Dilemma: Ich bin verantwortlich, wenn ich nichts tue, ebenso wie, wenn ich handle. Wer nur zusieht, wie ein Tyrann mordet, wird eben auch schuldig. Also muss ich mich entscheiden. Das gilt heute genauso - und es ist nicht einfach. Wer die Verantwortung auf sich nimmt, ist frei. Selbst den Tod zu riskieren. Wie Pflegende und Ärztinnen auf den Stationen der Infizierten. Wir feiern jetzt eine Auferstehung der Freiheit. Nicht der Freiheit des Marktes. Nicht der Freiheit der vermeintlich Starken gegenüber den sogenannten Schwachen. Sondern die Freiheit zur Verantwortung und Mitmenschlichkeit.
Ich habe ein Bild geschenkt bekommen. Schauen Sie es an: eine Gruppe von Menschen. Bunt zusammengewürfelt. Große und Kleine - deutlich mehr als eine Kleinfamilie oder gar zwei Singles! Einer stBereht daneben. Vielleicht noch voll Angst. Traut sich nicht in die Gemeinschaft. Vielleicht ist er ausgegrenzt. Ausgesperrt. Ich selbst stehe da, mit meiner Sehnsucht nach diesem neuen Leben in Gemeinschaft. In einer Gemeinschaft von Freiheit und Mitmenschlichkeit. Bernhard Jäger hat das Bild gemalt. Er war Zahnarzt. In der Mannheimer Vesperkirche war er in den vergangenen Jahren für Obdachlose da. Auch er hat die Freiheit für sich entdeckt: für andere da zu sein, sich zu verschenken. Er ist auferstanden - bevor er vor zehn Tagen starb. Bernhard sagte: „Ich bin so dankbar und demütig, mir ist so vieles geschenkt. Jetzt geh ich ins Licht.“
Dankbarkeit und Demut: Es geht vielen erstaunlich gut - inmitten dieser Krise. So vieles funktioniert: Sozialversicherung, Kurzarbeitergeld, Homeoffice, Telefon, Post! Familien erleben Zeit miteinander wie nie. Manch eine begegnet sich selbst ganz neu. Viele genießen die herrlichen Frühlingstage. Die frische Luft und die Stille in der Stadt. Duft. Farben. All das erzählt von Auferstehung.
Auferstehen zur Freiheit und Verantwortung! Sie wird noch dauern, diese seltsame Zeit - aber die Karten liegen auf dem Tisch. Wir haben jetzt schon die Chance, sie neu in die Hand zu nehmen. Und manches anders zu tun als bisher. Anders zu wirtschaften. Anders zu reisen. Und die Auferstehung der Mitmenschlichkeit zu leben.
Zur Person: Ilka Sobottke
- Ilka Sobottke spricht seit März 2019 im Wechsel mit anderen Pfarrerinnen und Pfarrern regelmäßig das „Wort zum Sonntag“ in der ARD.
- Sie studierte in Heidelberg und Rom und ist seit 1999 Pfarrerin der Mannheimer City-Gemeinde Hafen-Konkordien.
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