Geistliches Wort

Zufall zeichnet Lebenslinien

Von 
Ilka Sobottke
Lesedauer: 

Ein Mann erzählt eine Geschichte. Samtweiche freundliche Stimme. Sanfte melancholische Augen. Als könnte er nie laut werden. Vielleicht kann er es auch nicht.

Der Mann erzählt und zeichnet. „Kritzelkratzel“, sagt er, „ohne Hingucken.“ Der Zufall führt die Hand. Er schaut hin und sagt „ah jetzt weiß ich’s: ein Gesicht“ und zeichnet Mund, Augen, Nase, eine Frau. Eine Linie wird zum Arm, noch ein Gesicht, ein Kind. Eine Hand hält das Kind. Auf dem Kopf eine zweite Gestalt, der Vater? Nein. Der Großvater. Eine Erinnerung. Die Frau ist geflüchtet. Einen Käfig hat sie dabei mit Vögeln. Eine schwebende Großmutter. Alle in einem Boot. Die Geschichte fließt in den Stift, die Linien des Zufalls in die Geschichte. Reine Poesie.

Mehrdad Zaeri ist Zeichner, Buchillustrator, Künstler. Geflüchtet aus dem Iran. Er hat gelernt, sich dem Zufall anzuvertrauen. Beim Zeichnen ebenso wie in seinem Leben. Davon wie seine Familie auf Umwegen in Deutschland gelandet ist, erzählt er kuriose Geschichten. Er erzählt sie so, dass die Zuhörenden kichern, zumindest lächeln. Den Schmerz lässt er nur manchmal aufblitzen. „Wer weiß, wozu es gut war?“. Diesen Satz seines Vaters zitiert er. „Damals hat es mich oft wütend gemacht. Aber heute lebe ich aus diesem Optimismus. Wenn etwas Schlimmes passiert – wer weiß wozu es gut war?“

Bestens integriert

Mehrdad Zaeri weiß auch, dass Menschen Schlimmes passiert, das nicht gutzumachen ist. Dennoch vertraut er darauf, dass aus dem Zufall Gutes entstehen kann. Auch wenn es das Leben durcheinander bringt. „Wer sein Leben ganz unter Kontrolle hat, sehnt sich nach Verrücktheit.“ Das Leben nicht immer im Griff haben, könnte befreien aus dem Würgegriff von Kontrollzwang, Planung, Langeweile und Gewohnheit, denke ich mir. „Wo, wenn nicht in diesem Land können wir uns aus der Bahn werfen lassen? Wir sind hier doch so abgesichert“, meint Mehrdad. So erzählt er auch von der kuriosen win-win-win-Situation, die entstand, als die DDR sich ein Geschäft ausdachte: Geflüchtete aus dem Iran für wenige Stunden aufnehmen, um sie dann abzuschieben in die Bundesrepublik – als Dissidenten. Die Bundesrepublik wollte ostdeutsche Dissidenten freikaufen – und bekam, ganz ohne es zu begreifen, die persische Elite: Ärzte, Wissenschaftlerinnen, Intellektuelle. Heute bestens integriert und erfolgreich. Und eben ihn: Mehrdad Zaeri, damals 15, ein schüchterner irritierter Teenie.

Heute: der Künstler. „Ich konnte und ich kann nichts anderes als zeichnen“, sagt er. Stimmt aber nicht, denn er kann wunderbar erzählen.

Wer weiß, wer derzeit an Europas Grenzen steht? Musikalische Genies? Erfinderinnen, Künstler? Frauen, die für die Freiheit kämpfen, schüchterne Teenies, verschreckte Kinder, die irgendwann ganz besondere Talente entfalten werden, Menschen die heute Hilfe brauchen und eine offene Tür. Wer weiß, wozu es gut ist, dass manche Geflüchtete an und über unsere Grenzen bringen?

Wir sind so abgesichert. So reich. Trotz Corona, trotz allem. Wir können uns kuriose Verwicklungen erlauben, Zufälle, Kontrollverlust. Josef, der biblische Träumer, sagt zu seinen Brüdern, die ihn in die Sklaverei verkauften: „Ihr dachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Wer weiß, was Gott sich dabei denkt, wenn sie dem Treiben auf der Welt zusieht und wo sie die Finger im Spiel hat? Wer weiß, wozu es gut ist?

Ilka Sobottke, Pfarrerin CityGemeinde Hafen-Konkordien

Freie Autorin

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen