Unsichtbare Netzwerke: Von solchen ist derzeit oft die Rede. Sie hacken sich in Computer ein, entziehen Daten oder verändern sie zum Schaden der Nutzer. Sie stehlen Informationen, machen Geheimes öffentlich oder spionieren. Typisch für solche Verbindungen ist, dass möglichst wenige Beteiligte sich kennen oder voneinander wissen dürfen. Nur so funktioniert gute Geheimhaltung. Wer auffliegen sollte, kann nicht zu viel verraten.
Hier im Krankenhaus gibt es ein anderes – fast – unsichtbares Netzwerk: In einem kurzen Flur, der nirgends sonst hinführt, befinden sich der muslimische Gebetsraum, die Zimmer der Seelsorgenden und die Kapelle. Wer hierher kommt weiß, was er sucht oder hat sich verlaufen.
Die Tür, die am häufigsten geöffnet und geschlossen wird, ist die zum muslimischen Gebetsraum. Er ist kaum größer als mein Arbeitszimmer, ein hohes Regal teilt ihn; davor ist Platz für Schuhe, das Waschbecken, ein Regal mit frischen Handtüchern und ein Abwurf für benutzte. Dahinter leerer Raum mit Teppichboden, an dem die Himmelsrichtung nach Mekka erkennbar ist. Inzwischen habe ich gelernt, wie die Benutzung reibungslos klappt: Wenn ein Mann die Tür öffnet und drinnen Herrenschuhe sieht, dann bleibt er. Erkennt er aber Damenschuhe, so zieht er sich respektvoll zurück und wartet im Flur, bis die Beterin den Raum verlässt. Umgekehrt läuft es ebenso.
Für die fünf täglichen Gebete gibt es keine präzise Uhrzeit, sondern Zeiträume, in denen Frau oder Mann beten kann. Eile ist nicht nötig. Im Flur entstehen bisweilen leise Gespräche, mit anderen Wartenden oder jemand aus einem Seelsorgezimmer. Manchmal verabreden sich zwei oder drei Menschen zum Beten. Die meisten sind an ihrer Kleidung als Mitarbeitende erkennbar.
Ich frage mich, wie das wohl ist: Regelmäßig die Arbeit unterbrechen, beten und dann den Dienst wieder aufnehmen. Ob das die berufliche Tätigkeit verändert? Den Umgang mit den Menschen, mit den Lasten, die Patienten, und nicht nur sie, hier im Haus tragen? Mein Beten tut das – aber selten begegnen mir andere, die dafür in die Kapelle kommen. Es brauchen ja nicht alle Glaubenden zum Gebet einen besonderen Ort. Meist reicht dafür ein ruhiger Augenblick, eine kleine, nicht immer geplante Unterbrechung: An der Haltestelle, der Ampel, im Fahrstuhl oder der Kasse im Supermarkt.
Miteinander arbeiten und wissen: Der oder die andere wird später in den Gebetsraum gehen – ich stelle mir vor, dass dadurch ein unsichtbares Netz entsteht, das auch die unterstützt und trägt, die den kleinen Flur nicht kennen und nie auf den Gedanken kämen, ihn zu suchen.
Das unsichtbare Netzwerk, so stelle ich mir vor, umgibt unseren geplagten Planeten und ebenso alle Lebewesen, die ihn bewohnen. Ein Schutzschirm, wie er in Science-Fiction-Filmen vorkommt, stabil, kostbar wie die Ozonschicht, durchlässig und jederzeit erneuerbar.
Oft, wenn ich in die Kapelle gehe, weiß ich, dass drei Türen weiter gerade jemand betet, und denke an die Menschen, die dazu keinen besonderen Ort aufsuchen wollen oder keine besonderen Worte brauchen. So ist unser Flur keine Sackgasse, viel eher ein Weg ins Weite. Hin zu der Wirklichkeit, die wir mit unterschiedlichen Namen nennen, die aber dennoch eine Einzige ist.
Irene Wimmi,
Krankenhausseelsorgerin
in Heidelberg
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