Im Allgemeinen geht der Mensch in seiner Überheblichkeit davon aus, er sei die Krone der Evolution. Sy Montgomery verpasst all jenen, die in dieser Theorie eine Rechtfertigung für animalische Drangsalierung oder gar Ausrottung sehen, einen Dämpfer. Erst von Tieren könne (und sollte) man lernen, Mensch zu sein. Schon in ihrem Bestseller „Rendezvous mit einem Oktopus“ (2017) vertrat die US-Amerikanerin die Auffassung, dass Tiere eine Seele haben. Diese Lebewesen hätten sie zu einer neuen Art des Denkens über das Denken geführt.
Nun hat die Naturforscherin, Journalistin und Autorin, die monatelang Kontinente bereist, um Spezies in ihrer natürlichen Umgebung zu studieren, genau diese Erkenntnis zum Titel ihres neuen Buches gemacht: „Einfach Mensch sein – Von Tieren lernen“. Und so begegnet der geneigte Leser nicht nur ihren vier Hunden, die (nacheinander) das bisherige Leben der 61-Jährigen bereichert haben, sondern macht auch Bekanntschaft mit Emus, Vogelspinnen, einem Schwein, einem Hermelin, Baumkängurus und einer ganzen Hühnerschar, den „Ladys“.
Ein Hund – um genau zu sein, Molly, eine kleine Scotchterrier-Hündin – hat möglicherweise die Weichen gestellt für Montgomerys weiteres Leben. Die eigenwillige Molly war wild und unerschrocken, vor allem aber genau das Gegenteil von dem, was die Eltern der damals dreijährigen Sy von Tochter und Hund erwarteten: gehorsam. Also geradezu ein Vorbild für die ebenso wilde, nach Freiheit und Natur gierende Sy. Sie ging zum Unwillen ihrer Eltern ihren eigenen Weg, der sie rund um den Globus und in die entlegensten Winkel der Erde führte.
Es ist eine Eigenwilligkeit Montgomerys (und sicher nicht nur ihre), Tieren, mit denen sie in Kontakt tritt, Namen zu verpassen, die einen äußerlichen oder charakterlichen Bezug zu irgendwem oder irgendwas aufweisen: So holt sie Nackthälschen, Hinkebein und Schwarzköpfchen aus der Emu-Anonymität. Den bekannten Fakten – beispielsweise, dass die Laufvögel etwa 1,80 Meter groß werden, im Schnitt 35 Kilo wiegen, bis zu 50 Kilometer pro Stunde schnell laufen, aber auch mit einem Tritt ein tierisches oder menschliches Genick brechen können – will Montgomery etwas Neues hinzufügen: Bis dahin gab es noch keine wissenschaftliche Studie über das Gruppenverhalten wilder Emus.
So erweitert Montgomery ihr Wissen um individuelle Erfahrungen, indem sie mit den Vögeln durch das australische Outback wandert, schläft und tatsächlich eine Art Beziehung aufbauen kann. Letztendlich sind es diese Riesenvögel, die die Forscherin veranlassen, „alles zurückzulassen, was ich liebte“. Wen wundert’s dann noch, dass Montgomery auch nicht vor der Bekanntschaft einer Riesen-Vogelspinne zurückschreckt, sondern sie – im Gegenteil – ins Herz schließt.
Die Augen öffnen
Wenn es neben anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen eines gibt, was man Montgomery unbedingt zugestehen muss, dann sind es ihre Bemühungen, Vorurteile gegen zumeist geächtete Spezies abzubauen. Statt wütend zu sein, dass im heimischen New Hampshire ein weißes Wiesel (Hermelin) eine ihrer „Ladys“ abmurkst, bewundert Montgomery seine Schönheit, seine Wildheit und vergleicht das Tier mit einem Engel.
Ganz und gar nicht himmlisch ergeht es der Tierfreundin in Papua-Neuguinea. Doch die Bekanntschaft mit den seltenen Baumkängurus entschädigen sie für erlittene Strapazen. Viel Raum nimmt auch das Schwein Christopher Hogwood ein. Als mickriges Jungtier aufgepäppelt von Sy Montgomery und Ehemann, wird es uralt und ist ein wichtiger Teil der Familie. Genauso wie Sally und Tess, zwei Border-Collies, deren junges Vorleben grausam war und die im Haus der Forscherin doch noch glücklich werden.
Die amerikanische Autorin Donna Leon fasst in ihrem Nachwort zusammen: „Sy Montgomery öffnet uns die Augen für die Mitbewohner unseres gemeinsamen Hauses und gemahnt uns, dass auch sie ‘jemand’ sind.“ Das wird Montgomery unbedingt unterstreichen.
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