Die Unterteilung historischer Bereiche orientiert sich selten an glatten Jahrhunderten. Derartige Segmentierungen sind beliebt, aber selten zielführend. Deshalb hat der britische Historiker Eric Hobsbawm (1917-2012) etwa vom „langen 19. Jahrhundert“ gesprochen, das er von der Französischen Revolution bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs ansetzte. An diese Einteilung knüpft sein emeritierter Kollege Ian Kershaw (Universität Sheffield) mit seiner zweibändigen Geschichte des 20. Jahrhunderts an, dessen zweiter Band „Achterbahn – Europa 1950 bis heute“ jetzt auf deutsch erschienen ist (im Original Anfang 2018) und der an „Höllensturz – Europa 1914 bis 1950“ anschließt.
Nach dem „Höllensturz“ der Kriege
Im Zentrum des ersten Bandes stand die „offensichtlich zentrale Rolle der Weltkriege“. Die übergreifende Frage lautete: Wie konnte es dazu kommen? Es war eine lineare Entwicklung, so Kershaw: „In einen Krieg hinein und aus ihm heraus und dann noch einmal in einen Krieg hinein und aus ihm heraus.“ Für die Zeit danach gibt es keinen ähnlich gelagerten Prozess. Er war „voller Wendungen und Windungen, Auf und Abs und willkürlicher Wechselfälle“, was Kershaw zu der Beschreibung „Achterbahnfahrt“ gebracht hat. Wohl wissend, dass die Metapher ihre Grenzen hat, denn schließlich endet die Fahrt im Vergnügungspark wieder an einem vorbestimmten Punkt – die geschichtliche Entwicklung dagegen ist offen.
„Höllensturz“ endete versöhnlich. Nach der Doppelkatastrophe zweier Weltkriege zeichnete sich für Europa eine hellere Zukunft ab, jedenfalls für den westlichen Teil. Die Abläufe jetzt sind bestenfalls „weniger eindeutig“. Weshalb das Buch eben nicht mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks 1989/91 endet, was dem „langen 19. Jahrhundert“ ein „kurzes 20.“ an die Seite gestellt hätte, sondern 2017. Kershaw begründet die uneindeutigen Wechselfälle mit dem „seit 2008 in Europa herrschenden Durcheinander, den Aufstieg nationalistischer, fremdenfeindlicher Parteien in vielen Ländern, die langfristigen Herausforderungen, vor denen der Kontinent steht und den offenbar unaufhaltsamen Aufstieg Chinas zur Weltmacht und zu globalem Einfluss“. Die Herausforderungen liegen auf der Hand und sind gewaltig: Klimawandel, Demografie, Energieversorgung, Massenmigration, Spannungen des Multikulturalismus, Automatisierung, die größer werdende Einkommenskluft, die internationale Sicherheit und die Gefahr weltweiter Konflikte. Das Versöhnliche geht in eine fundamentale Skepsis über.
Ein Grund dafür ist der Brexit, dessen aktuelles Chaos der Autor bei Abschluss der Niederschrift im November 2017 ja noch gar nicht kennen konnte. Kershaw sieht in der Europäischen Union und ihren Vorläufern (EWG, EG) den entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des Kontinents. Dementsprechend betrachtet er die Tatsache, dass Großbritannien 1957 nicht Mitglied der EWG wurde, als strategischen Fehler der Londoner Politik. So wie jetzt den angestrebten Austritt. Er ist für ihn der „größte Akt nationaler Selbstbeschädigung in der Nachkriegsgeschichte“.
Mit großer Offenheit deutet Kershaw auch auf weitere Fehlentscheidungen des Westens. Dazu zählt er dessen abschätzigen Umgang mit Russland nach 1990, als das Land unter Boris Jelzin im Chaos von Auflösungserscheinungen, Wirtschaftskrisen und einer grassierenden Korruption fast untergegangen wäre. Und dazu rechnet er auch den Irakkrieg (März bis Mai 2003) im Gefolge der Anschläge vom 11. September 2001. Diesen habe die Bush-Regierung mutwillig und faktenwidrig vom Zaun gebrochen – mit dem britischen Premier Tony Blair an ihrer Seite. Zu einem Gutteil sei der anschließende Terror gegen den Westen also selbst verschuldet. Und die dem Irakkrieg folgende Destabilisierung des Nahen Ostens sieht der Brite als einen Ausgangspunkt für den Bürgerkrieg in Syrien (seit 2011), der zu einer Fluchtbewegung geführt hat, die Europa bis heute zu schaffen macht und den Aufstieg populistischer Gruppierungen befördert hat.
Kershaw hat mit „Höllensturz“ und „Achterbahn“ ein ebenso fakten- wie kenntnisreiches Werk vorgelegt, das die Gegenwart besser verstehen lässt. Der pessimistische Ausblick ist mit dem Brexit und einer amerikanischen Regierung Trump, die die internationalen Spannungen befördert statt sie abzubauen, hinreichend begründet. Umso wichtiger wäre es, dass sich Europa als Ganzes von den Großmächten emanzipiert. Doch die nationalen Egoismen stoppen derzeit diese wünschenswerte Entwicklung.
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