Wien. Frau Brodnig, wo kommen plötzlich all die Menschen her, die Verschwörungserzählungen verbreiten, wonach das Coronavirus gar nicht so schlimm und die Zahl der an Covid-19 Verstorbenen gefälscht sei?
Ingrid Brodnig: Ich denke, unsere Gesellschaft hat vor der Corona-Krise ein bisschen ausgeblendet, welchen großen Nährboden es für solche Erzählungen gibt. In der Flüchtlingsdebatte vor einigen Jahren beispielsweise gab es viele wilde Gerüchte und Falschmeldungen. Und manche dieser Gerüchte waren eigentlich schon Verschwörungsmythen. Zum Beispiel, dass die deutsche Bundesregierung heimlich nachts Flüchtlinge einfliegen lasse. Wir haben damals nur nicht so viel darüber geredet. Jetzt in der Corona-Krise ist es noch einmal extremer geworden, da sind auch manche auf so etwas reingekippt, die nicht die üblichen Verdächtigen waren.
Nämlich wer?
Brodnig: Ich war auf vielen Corona-Demonstrationen und erschreckt, wie breit das in die Bevölkerung hineingeht. Dass dort Leute stehen, die ein halbes Jahr vorher nicht für so etwas auf die Straße gegangen wären. Das könnten meine Nachbarin oder meine Tante sein.
Viele Coronaleugner kommunizieren über den Messaging-Dienst Telegram, auch die Bewegung der "Querdenker". Wie gefährlich sind solche Gruppen in den sozialen Netzwerken?
Brodnig: Ich war im August 2020 auf einer großen Demo in Berlin und erstaunt, wie viele Menschen mir dort erzählten, dass sie seit März 2020 hauptsächlich auf Telegram sind und dann zum Beispiel sagen, „dieses Corona-Virus ist der größte Betrug in der Menschheitsgeschichte“. Die Gefahr ist, dass sich manche total abschotten und nicht nur online sehr stark eingegrenzt lesen, sondern dass sie es auch ihrem Umfeld ziemlich schwer machen, weil sie sagen, „du weißt ja überhaupt nicht Bescheid, du bist auch einer dieser Mitläufer“.
Das ist ein Totschlagargument, gegen das man kaum ankommt.
Brodnig: Im Englischen heißt das „self-sealing argument“, ein sich selbst abdichtendes Argument. Der Mythos wird von vornherein so konstruiert, dass niemand mehr rankommt. Jeder, der widerspricht, ist entweder verblendet oder Teil der Verschwörungserzählung. Und das macht Verschwörungsmythen auch so erfolgreich, denn wenn Fakten daherkommen, die einem eigentlich widersprechen, kann man sagen, dass genau diese Fakten zeigen, wie tief die Verschwörung ist.
Aber was entgegnet man diesen Menschen dann?
Brodnig: Meine erste Frage ist immer: „Wie meinst du das?“ Es kann sein, dass man innerhalb von drei Minuten mitten in den wildesten Vorstellungen ist, eine dunkle Elite wolle die Bevölkerung unterjochen und gesteuert werde das alles von Bill Gates. Dann gibt es den anderen Fall, dass Leute sagen, sie hätten etwas in einem Video gesehen und das habe sie verunsichert. In solchen Fällen ist es womöglich leichter, zu den Menschen durchzudringen. Ein Beispiel ist die Impfung. Eine häufig kursierende Erzählung ist – unbelegt, ich sag’s gleich dazu – die Corona-Impfung könne Menschen unfruchtbar machen. Das ist an den Haaren herbeigezogen, trotzdem funktioniert das. Warum? Weil viele Menschen hoffen, irgendwann ein Kind zu bekommen, aber vielleicht fürchten, dass es nicht klappen könnte. Das heißt, hier ist eine Erzählung, die baut auf bestehende Sorgen auf und wird dann mit einem aktuellen Thema verknüpft.
Aber das ist doch Humbug.
Brodnig: Richtig, trotzdem würde ich nicht gleich sagen, „hey, du bist ein Covidiot“, sondern würde es versuchen mit: „Ich habe das auch gehört, aber dann ein total interessantes Video gesehen. Hier kannst du dir das anschauen.“ Es kann natürlich sein, dass derjenige schon so weit in dem Denken drinsteckt, dass selbst der beste Faktencheck nichts bringt.
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