Die Nachrichten im Fernsehen und die Schlagzeilen in den Printmedien werden in den vergangenen Wochen beherrscht von Meldungen über Straftaten. Straftaten, die mittlerweile alle Bevölkerungsgruppen sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern zutiefst verunsichern.
Es seien an dieser Stelle nur einige Beispiele genannt, etwa die Vergewaltigungstaten durch Zwölf- bis 14-Jährige in Mühlheim an der Ruhr, die rechtsextremistischen Mordanschläge auf Politiker, aber auch auf Migranten in Hessen. Der Mord mit einem schwertähnlichen Gegenstand in Stuttgart. Oder der Mordanschlag auf eine Mutter mit ihrem acht Jahre alten Sohn im Frankfurter Hauptbahnhof.
Oft haben die Täter einen sogenannten Migrationshintergrund oder gehören zur Gruppe der Zuwanderer. Darunter fallen etwa Asylbewerber, Schutzberechtigte, Geduldete, solche mit unerlaubtem Aufenthalt oder Kontingentflüchtlinge.
Es handelt sich nicht nur um spektakuläre Einzelfälle. In der Polizeilichen Kriminalstatistik sind zum Beispiel bei Delikten wie Mord und Totschlag, Diebstahl, Einbrüchen, Körperverletzungen oder Vergewaltigungen nicht-deutsche Täter überrepräsentiert, dies gilt auch für die Opfer dieser Straftaten.
Politiker wie Wissenschaftler verweisen allerdings darauf, dass die Anzahl der Straftaten insgesamt kontinuierlich zurückgegangen ist, auch bei Gewaltdelikten. Und auch die Aufklärungsquote verbessert sich ständig. Deutschland gehört daher zu den sichersten Ländern auf der Welt. Kriminologen stellen zusätzlich fest, dass in der Gruppe der Zuwanderer überproportional junge Männer zwischen 18 und 29 Jahren vertreten sind – und dies ist auch bei Deutschen die Altersgruppe mit den höchsten Anteilen der Tatverdächtigen.
In der medialen Diskussion und in den anstehenden Wahlkämpfen bestimmen Forderungen nach mehr Geld für Polizei und Sicherheit die Diskussion. Verstärkte Grenzkontrollen sollen verhindern, dass potenzielle Straftäter einreisen, Abschiebungen und Rückführungen sollen erleichtert und ausgeweitet werden – alles Versprechungen für die Zukunft, ohne aber die realen Probleme in der Gegenwart zu reduzieren.
Zur (selbst-)kritischen Analyse muss auch gehören, dass das Versprechen der Resozialisierung durch die Justiz und durch die Aktivitäten des Sozialstaats auch bei deutschen Tätern in eine konzeptionelle und strukturelle Krise geraten ist.
In den 1970er Jahren erfolgten in großem Umfang gesetzgeberische und tatsächliche Reformen für den Strafvollzug in allen Bundesländern, nach der Wiedervereinigung auch in den neuen Ländern. Jährlich wenden die Länder dafür nun etwa fünf Milliarden Euro auf, jedoch ohne dass in größerem Umfang dadurch die Rückfallraten reduziert werden konnten. Ambulante Maßnahmen dagegen vermeiden die negativen Wirkungen der Subkulturen in den Gefängnissen und weisen strukturell mehr Erfolge nach, allerdings sind sie chronisch unterfinanziert.
Der Begriff und das Konzept von Resozialisierung drücken aus, dass der Verlauf einer gelingenden und lebenslang stattfindenden Sozialisierung durch das Begehen von Straftaten gestört wurde, sodass „Nachreife“ angezeigt ist – also Re-Sozialisierungsaktivitäten stattfinden sollen, die zukünftig straffreies Verhalten beabsichtigen. Nach der Entlassung werden Gefangene jedoch überwiegend erneut straffällig. Die höchsten Rückfallquoten weisen Jugendstrafe ohne Bewährung und Jugendarrest auf.
Wenn nun in massivem Umfang die Quoten von nicht-deutschen Inhaftierten in der U-Haft und in der Strafhaft alarmierend ansteigen – wie sollen dann verbesserte Resozialisierungserfolge für diese Zielgruppen erreicht werden? Deren Sozialisation hat in weit entfernten zumeist armen Ländern stattgefunden, mit völlig anderen gesellschaftlichen und häufig religiös geprägten Verhältnissen und zusätzlichen traumatischen Fluchterfahrungen.
Auch für sie ist also „Nachreife“ angesagt – das heißt: soziales Lernen und soziales Training für ein straffreies und integriertes Leben im Alltag in Deutschland. Möglichst beginnen sollte dies mit der Beratung der Eltern, aber auch mit Lernprogrammen in Kindertagesstätten und in Schulen, mit frühen Hilfen zum Beispiel durch den Kinderschutzbund.
All dies hat seit den 1960er Jahren bereits erfolgreich mit den Kindern und Familien von sogenannten Gastarbeitern aus Italien, Spanien, Griechenland, dem früheren Jugoslawien und der Türkei stattgefunden und wurde ebenso erfolgreich mit Russland-Deutschen, Polen und Arbeitsmigranten aus vielen anderen Ländern fortgesetzt. Sie tragen ausländische Namen, haben deutsche Pässe und sind stolz auf ihre Integrationsleistung und ihre multinationale Identität.
Wir müssen also Resozialisierung neu denken. Und für alle Täter nicht nur auf den vermeintlichen Königsweg Gefängnis setzen, sondern vorrangig die ambulante Resozialisierung wie die Bewährungshilfe – inklusive sozialer Kontrolle – ausbauen. Und für Täter aus anderen Kulturkreisen verpflichtende soziale Integrationsprogramme einführen statt sie einfach nur wegzusperren. Sie benötigen Autoritätspersonen mit Vorbildcharakter, die Lotsen- und auch Kontrollfunktionen übernehmen und so fit machen für den Alltag in der deutschen Leistungsgesellschaft. Dabei ist „Normverdeutlichung“ angesagt, also die Einsicht in die Spielregeln und das Wertegefüge des deutschen Rechtsstaats. Parallelgesellschaften und Selbstjustiz dürfen nicht hingenommen werden. Wirksame Projekte und Programme gibt es bereits, doch sie werden viel zu wenig gefördert und nicht nachhaltig abgesichert.
Politisch ist über die Jahre die „Reduzierung von Kriminalität durch Resozialisierung“ zu einem Loser-Thema geworden. So kommt der Begriff Resozialisierung im Vertrag der Großen Koalition zwischen CDU und SPD gar nicht mehr vor. Die FDP hat ihr früheres liberales justizpolitisches Profil völlig verloren, für die Grünen ist das Thema zu komplex. Die AfD sucht und findet Sündenböcke und gewinnt so Stimmen nicht nur am rechten Rand.
Die Gefahr ist groß, dass in einer verunsicherten Gesellschaft Populisten mit einfachen Parolen Stimmung machen und vielleicht sogar Wahlen gewinnen. So jetzt Boris Johnson, der für 2,66 Milliarden Euro in Großbritannien 10 000 neue Gefängnisplätze schaffen will. Selbstkritische Analysen und öffentlicher Diskurs wurden durch Politiker und Medien sträflich vernachlässigt. Es ist Zeit für einen Neustart.
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Der Gastautor
- Bernd Maelicke wird 1941 in der Nähe von Berlin geboren. Als Zwölfjähriger gehört er einer Jugendbande an.
- Als Abiturient startet er seine ehrenamtliche Mitarbeit in der Straffälligenhilfe, später studiert er Jura und Kriminologie in Freiburg. Er promoviert über Resozialisierung.
- Danach arbeitet Maelicke als Leiter der bundeszentralen Fortbildungsakademie des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge in Frankfurt und als Direktor des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt. Von 1990 bis 2005 leitet er als Ministerialdirigent in Schleswig-Holstein die Abteilung „Strafvollzug, Soziale Dienste der Justiz, Straffälligenhilfe, Gnadenwesen“.
- Er ist Gründungsdirektor des Deutschen Instituts für Sozialwirtschaft (DISW) in Lüneburg und lehrt an der dortigen Universität in den Fächern Sozialmanagement/Sozialwirtschaft, Kriminologie, Strafvollzug.
- Er ist Mitbegründer der Fachzeitschriften „Neue Kriminalpolitik“, „Sozialwirtschaft“, „Seniorenwirtschaft“ und der „Edition Sozialwirtschaft“.
- Bücher: „Das Knast-Dilemma“ (2019 in zweiter Auflage im Nomen-Verlag erschienen), „Das Gefängnis auf dem Prüfstand“ (2018, Springer).
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