Pegida kämpft gegen die Islamisierung des Abendlandes, die Mehrheit der Deutschen steht dem Islam ablehnend gegenüber: Laut einer aktuellen Umfrage im Auftrag der Bertelsmann Stiftung wird er von 57 Prozent der Deutschen als Bedrohung empfunden. Warum wird der Islam als gefährliche, radikale Religion wahrgenommen?
Danijel Cubelic: Dass der Islam als radikal wahrgenommen wird und damit Muslime unter einen Generalverdacht geraten, hängt weitgehend mit unserer Medienlandschaft zusammen, und wie bestimmte Strömungen und Gruppen in der islamischen Welt gelernt haben, unsere Aufmerksamkeitsindustrie für sich zu nutzen. Schauen wir uns zum Beispiel das Attentat in Paris an: Eine kleine Gruppe von Terroristen schafft es mit wenigen Ressourcen - ein paar Kalaschnikow und jungen Männern, die bereit sind, ihr Leben zu riskieren und andere zu töten - weltweite Aufmerksamkeit zu erzeugen und damit auch die Art und Weise, wie wir den Islam wahrnehmen, an sich zu reißen. Denn was bei den meisten Menschen hängenbleibt, ist das Attentat unter dem Label "Islam", "islamistisch" - nicht etwa die vier Millionen Muslime, die seit Jahrzehnten friedlich in Frankreich oder Deutschland leben.
Gibt es denn den Islam überhaupt?
Cubelic: Nein, weder den einen Islam noch die Muslime. Das zeigt schon ein Blick auf die verschiedenen islamischen Strömungen in Deutschland aus Sunniten, Aleviten, Schiiten, der Ahmadiyya und Sufi-Gemeinden. Es gibt weltweit schätzungsweise 1,6 Milliarden Muslime, die sich zwar alle auf den Koran beziehen, ihn aber auf völlig unterschiedliche Art und Weise lesen und interpretieren. Dabei ist der kleinste gemeinsame Nenner die "Schahada", also das islamische Glaubensbekenntnis: Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Gesandter. Aber schon bei den fünf Säulen des Islam - dem fünfmaligen Gebet, der Pilgerreise nach Mekka, den Almosen, dem Fastenmonat "Ramadan" und dem Glaubensbekenntnis - gehen die Vorstellungen und der religiöse Alltag auseinander.
Auch die Vorstellungen über Politik? Kritiker zweifeln an, dass der Islam überhaupt mit Demokratie vereinbar sei.
Cubelic: Menschen stellen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Fragen an ihre eigene Religion. Dass heute Menschen oder in der arabischen Welt ihren politischen Willen oft über islamische Bewegungen und Parteien äußern, hat damit zu tun, dass diese Staaten und Ihre Regierungen als korrupt wahrgenommen werden. Von Politikern "islamischer" Parteien verspricht man sich mehr Ehrlichkeit und Bodenständigkeit. Sie fordern, dass der Islam neben "din", also dem Glauben, auch "dunya", die weltliche Ordnung und "daula", also die Staatsform, bestimmen müsse. Diese politische Artikulation von Islam, der Wunsch nach der Einführung des islamischen Rechts in Form staatlicher Gesetze, bezeichnet man oft als Islamismus, zum Beispiel bei der Muslimbruderschaft in Ägypten. Diese politische Komponente spielt unter Muslimen in Deutschland heute außer unter radikalen Islamisten keine Rolle.
Wann spricht man von radikalen Islamisten, wann von Dschihadisten?
Cubelic: Eine Radikalisierung geht meist mit einem Traditionsverlust und mit der Hinwendung zu neo-salafistischen Kreisen einher. Das heißt, im Elternhaus erlernte religiöse Traditionen werden plötzlich infrage gestellt und als verfälscht wahrgenommen. Neo-Salafisten fordern die Rückkehr zum "reinen" Islam, frei von Traditionen, die sie selbst als unislamisch verstehen. Ihre Lesart des Korans ist stark rückwärtsgerichtet, orientiert sich an der Frühzeit des Islam, angeblich am Vorbild des Propheten. So auch ihr Verständnis des Dschihad. Der Begriff des Dschihad ist in der islamischen Theologie umstritten, seine Bedeutung hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. In der islamischen Frühzeit wurde er im Sinne eines heiligen Kampfes, einer militärischen Anstrengung auf dem Wege Gottes, verstanden. Wie so oft in der Geschichte haben Machthaber versucht, Kriege theologisch zu rechtfertigen, sei es mit dem christlichen Ritter im Mittelalter oder eben mit dem Dschihad während der Eroberung durch arabische Stämme. Später ändert sich die Interpretation des Dschihad hin zu einem inneren Kampf gegen die eigene Triebseele. Wenn Sie Muslime heute nach ihrem Verständnis vom Dschihad fragen, wird Ihnen vermutlich eher diese Idee der Anstrengung auf dem Weg zu einer guten, gerechten Gemeinschaft begegnen. Die ältere Definition wird von radikalen islamischen Gelehrten aber immer wieder aus der Kiste geholt, um junge Männer für den Kampf zu motivieren und Gewalt zu legitimieren.
Inwiefern ist denn der Koran das unverfälschte Wort Gottes?
Cubelic: Der Islam basiert auf Koran und Sunna, der Lebenspraxis des Propheten. Diese sind meist über die Hadithe, also seine gesammelten Aussprüche, überliefert. Natürlich wird immer versucht, diese Quellen als nicht hinterfragbar darzustellen, genauso wie es das Christentum mit der Bibel gemacht hat. Es gibt aber eine kritische, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte des Korans, auch wenn das von vielen islamischen Theologen nicht gerne gesehen wird. Der Koran wurde zwar in einem wesentlich kürzeren Zeitraum als die Bibel in den Jahrzehnten nach dem Tode Mohammeds aus mündlichen Überlieferungen verschriftlicht. Von den frühen Verschriftlichungen existieren aber nur Fragmente. Und diese beinhalten viele Doppeldeutigkeiten, die womöglich unterschiedlich interpretiert wurden. Dass es das unverfälschte Wort Gottes ist, ist selbstverständlich eine theologische Behauptung.
Und wie hält es der Islam mit Polygamie, Zwangsheirat und Pädophilie?
Cubelic: Das hat es nicht nur in islamischen Gesellschaften gegeben: Diese Phänomene kennen wir zur Genüge aus der europäischen Geschichte. Kinder zu verheiraten ist weitgehend geächtet. Arrangierte Hochzeiten sind in bestimmten muslimischen Regionen aber noch weit verbreitet, obwohl sie nach Meinung vieler islamischer Theologen verboten sind. Polygamie ist laut Koran prinzipiell erlaubt, allerdings unter erschwerten Bedingungen. Je nach regionaler Tradition und Gesetzeslage ist sie eine sozial akzeptierte Praxis für wohlhabende Männer, oder ein sozial anstößiges Randphänomen. Eine Familie in Saudi-Arabien würde Ihnen wahrscheinlich sagen, dass Polygamie mit dem Islam zu vereinen ist, während es für eine Familie mit türkischer Migrationsgeschichte hier in Mannheim kaum etwas mit dem Islam zu tun hat. Die meisten Muslime in Europa verstehen Koran und Hadithe als Dokumente ihrer Zeit, die man nicht unhinterfragt auf die Gegenwart anwenden kann. Religionen sind immer dem Wandel unterworfen. Religionen vergessen auch, geben nur bestimmte Dinge weiter. Nicht nur das, was Theologen predigen, sondern wie Menschen religiöse Normen umsetzen und im Alltag leben - das ist Religion. Die Auseinandersetzung mit religiösen Texten und Normen spielt für Muslime eine viel geringere Rolle als viele vermuten. Genauso übrigens auch im Christentum, nur dass wir hierbei viel stärker im Blick haben, dass die Religion individueller ausgelebt wird und wir nicht alle Christen verallgemeinern.
Das Nicht-Wissen unter Muslimen wird von Konvertiten häufig kritisiert. Warum?
Cubelic: Konvertiten haben einen ganz anderen Zugang zu ihrer neuen Religion. Sie entscheiden sich aktiv aus einem Angebot von Religionen. Dabei stellen sie ganz andere Fragen als jemand, der religiöse Vorstellungen und Rituale in seiner Kindheit erlernt hat. Sie sehen die Religion oft als etwas von Tradition Getrenntes und setzen sich daher viel intensiver mit Regeln und Lehren auseinander. Doch auch Menschen, die als Muslime in Deutschland aufgewachsen sind, hinterfragen heute die Traditionen ihrer Eltern und haben ein Interesse, sich mit ihrer eigenen Religion auseinanderzusetzen. Studiengänge wie Islamische Theologie sind sehr erfolgreich und letztlich auch eine Antwort auf den Wissensdrang junger Muslime.
Zur Person:
- Danijel Cubelic ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich "Materiale Textkulturen" der Universität Heidelberg.
- Er studierte Religionswissenschaft und Islamwissenschaft, unter anderem in Heidelberg, Bochum, Damaskus und Aleppo.
- Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die religiöse Gegenwartskultur arabischer Gesellschaften und Islam in Deutschland.
- Cubelic ist 36 Jahre alt und lebt in Heidelberg.
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