Darmstadt/Lindenfels. Am 29. Juni 1986 verschwand die 15-jährige Jutta Hoffmann in einem Waldstück in Lindenfels (Kreis Bergstraße). Was lange niemand sicher wusste: An diesem Tag endete auch ihr Leben. Nach ihrem Verschwinden folgten zunächst Tage, dann Monate und schließlich Jahre ohne eine heiße Spur. Erst im Februar 1988 fand ein Spaziergänger ihre skelettierte Leiche. Und dann passierte lange nichts, der Fall wurde zu den Akten gelegt. Bis zum Spätsommer 2020.
An diesem Tag holte Polizeihauptkommissarin Tanja Becker vom hessischen Landeskriminalamt (LKA) eine Kiste mit Asservaten in Darmstadt ab, um die alten Beweismittel mithilfe neuer Technik zu untersuchen. Am Mittwoch beschreibt sie vor dem Landgericht in Darmstadt, was danach passierte, wie sie und ihre Kollegen auf Peter F. stießen, der sich 37 Jahre nach dem Verschwinden von Jutta Hoffmann vor Gericht verantworten muss, weil er sie ermordet haben soll.
Staatsanwältin: „Er wollte ihre Angst sehen“
Peter F. soll die 15-Jährige nach einem Schwimmbadbesuch in Lindenfels auf einem Waldweg abgefangen und tiefer in den Wald hinein gezerrt haben. Dann würgte er Jutta Hoffmann laut Anklage mit ihrem eigenen Gürtel, zückte ein Messer und vergewaltigte sie. „Er wollte ihre Angst sehen“, sagte Staatsanwältin Eva Heid während der Anklageverlesung. Danach soll der heute 62-Jährige die Jugendliche erstochen haben, um seine Tat zu vertuschen. Peter F., damals 24 Jahre alt, schweigt zu den Vorwürfen. Auch dazu, wie es ihm in seinem Leben ergangen ist, möchte er sich am ersten Prozesstag nicht äußern.
Sein Blick ruht auf Tanja Becker, die von den Dingen spricht, die sie im August 2020 für weitere Untersuchungen mit nach Wiesbaden nahm: den Bikini von Jutta Hoffmann, ihr blaues Kleid, mehrere Porzellanscherben, einen weißen Kunststoffknopf – und einen Spaten. Damit soll der mutmaßliche Täter ein Loch ausgehoben haben, um Jutta Hoffmanns Leichnam zu verscharren. Becker berichtet, dass sich am Spaten noch Erdbröckchen befunden hätten. Sie und eine Kollegin schälten den Spaten aus der Folie, die über drei Jahrzehnte zuvor um das Werkzeug gewickelt worden war.
DNA am Spaten führt zu Verdächtigem im Cold Case
Dann, sechs Wochen später, ein DNA-Treffer am Spaten. Am 4. November 2020 habe sie die Mitteilung bekommen, dass die gefundene DNA auf einen Sexualstraftäter passe, sagt Becker. Es ist die 145. Spur im Fall Jutta Hoffmann, und es ist eine heiße Spur.
Peter F. ist mehrfach vorbestraft, wegen Sexualdelikten und wegen anderer Straftaten. Als Tanja Becker, die die Ermittlungen im Cold Case Jutta Hoffmann führte, die Mitteilung bekam, befand sich Peter F. im Maßregelvollzug in einem psychiatrischen Krankenhaus in Norddeutschland. Dort war er seit 2012 untergebracht, Grundlage dafür war ein Urteil des Landgerichts Kiel.
Die Ermittler hörten sich darauf im Umfeld des Verdächtigen um, überprüften seinen Lebenslauf, fanden heraus, dass er sich zur Tatzeit im Ried aufgehalten haben könnte, sagt Becker. Damals soll er nach einer Haftstrafe auf Bewährung freigekommen sein, doch Gespräche der Ermittler mit dem Bewährungshelfer von damals liefen ins Leere. Und: Viele der alten Akten gab es nicht mehr, sie wurden längst geschreddert.
Polizeihauptkommissarin zu Gast bei ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY. . . ungelöst“
Dann taten die Ermittler etwas, das Tanja Becker am ersten Prozesstag nur am Rande erwähnt: Sie schalteten einen verdeckten Ermittler ein. Gleichzeitig wollten sie der Öffentlichkeit mitteilen, dass es neue Ermittlungsergebnisse im Fall Jutta Hoffmann gebe – offenbar, um den mutmaßlichen Täter aus der Reserve zu locken. Im März 2023 war Becker deshalb in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY. . . ungelöst“ zu Gast.
Im Gerichtssaal spielte der Vorsitzende Richter Volker Wagner eine Aufnahme der Sendung ab. Ganz am Ende, kurz vor Schluss, verkündet der Leiter des Aufnahmestudios, Alfred Hettmer, ein Pensionär des LKA Bayern, darin: „Es gibt eine Mitteilung darüber, dass der Name Peter eine Rolle spielen könnte.“ Diesen Satz hatten Becker und Hettmer vor Beginn der Sendung abgesprochen. „Das war eine kriminalistische List“, sagt die Ermittlerin. Worin diese ganz genau bestand, sagt sie nicht. Möglich wäre, dass der verdeckte Ermittler sich zum Zeitpunkt der Ausstrahlung in der Nähe des 62-Jährigen befand. Auf Nachfrage dieser Redaktion will Staatsanwältin Heid am Rande der Verhandlung noch keine weiteren Informationen dazu preisgeben.
Fest steht aber schon jetzt, dass es keinen entscheidenden Hinweis während oder nach der ZDF-Sendung gab, der zum mutmaßlichen Täter geführt hätte. Im Laufe des Prozesses, der bislang bis in den Januar terminiert ist, soll der verdeckte Ermittler auch als Zeuge gehört werden.
„Erhebliche Belastungen“ für die Familie von Jutta Hoffmann
Während Becker spricht, ruht nicht nur Peter F.s Blick auf ihr. Auch die Angehörigen von Jutta Hoffmann sitzen im Gerichtssaal, ihre Mutter, heute 84, ihr Vater, inzwischen 87, eine Schwester und ein Bruder. „Wenn so ein Prozess beginnt, ist das wieder mit erheblichen Belastungen verbunden“, sagt Rechtsanwältin Angela Gräf-Bösch aus Darmstadt am Rande der Verhandlung. Gräf-Bösch vertritt die Familie, die als Nebenklägerin in dem Mordprozess auftritt. Die Angehörigen möchten endlich wissen, was am 29. Juni 1986 geschah, dem Tag, an dem Jutta Hoffmann verschwand. Und starb.
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