Nahost

Warum Israel auf einem Pulverfass sitzt

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will die Gewaltenteilung aushebeln. Hunderttausende protestieren. Warum Experten sogar einen Bürgerkrieg für möglich halten. Ortstermin in einem gespaltenen Land

Von 
Walter Serif
Lesedauer: 
Jede Woche demonstrieren Zehntausende in Israel gegen die Justizreform der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. © Ariel Schalit / dpa / AP

Tel Aviv. Beach-Party am Strand von Tel Aviv. Die Sonne geht langsam unter, es ist nicht mehr so heiß. Jogger traben mit gemächlichem Tempo auf der Promenade entlang. Alle sind entspannt, trinken etwas oder spielen Volleyball. Viele schöne Menschen mit durchtrainierten Bodys. Die Muckis kommen aber nicht nur vom Freizeitsport. Auch die säkulare Spaßgesellschaft in Israel kann nicht nur dem Hedonismus frönen.

Anders als in Deutschland herrscht Wehrpflicht, außerdem müssen die Reservisten viel Dienst schieben. Das stählt den Körper und erhöht natürlich die Verteidigungskraft, Israels Armee gilt als die beste im Nahen Osten. „Die Reservisten werden bis zu 52 Tage im Jahr und bis zu 84 Tage innerhalb von drei Jahren eingesetzt. Bei den Piloten sind es sogar mehr als 60“, sagt Brigadegeneral Assaf Orion. Er ist auch Reservist und forscht am Institute for National Security Studies (NSS).

Justizreform in Israel: Viele Reservisten streiken

Doch sein nächster Satz klingt alarmierend: „Mein Leben lang kam die Gefahr von außen. Jetzt kommt sie aus unserem eigenen Land. Das ist völlig neu für uns“, sagt er und ergänzt: „Noch ist Israel verteidigungsfähig. Unsere Kommandeure sind im ständigen Austausch mit den Reservisten. In dieser Region ist eine verteidigungsfähige Armee kein Luxus. Von unseren Partnern abgesehen, sind wir von potenziellen Feinden umzingelt“, sagt er.

Was ist denn da los in Israel? „Hunderte Reservisten haben den Dienst verweigert. Einige Piloten sagen, wir müssen unseren Kommandanten und den Politikern vertrauen können, wenn wir ein Ziel im Visier haben. In diesen Tagen untergräbt die zerstörerische Politik dieses überlebensnotwendige Vertrauen“, sagt der Brigadegeneral.

Die umstrittene Justizreform

  • Im Vergleich zu Deutschland ist die Gewaltenteilung in Israel weniger stark ausgeprägt. Erstens fehlt eine zweite Parlamentskammer, zweitens gibt es keine geschriebene Verfassung. Nur die Grundgesetze haben verfassungsmäßigen Status. Sie können aber mit einfacher Mehrheit beschlossen und aufgehoben werden.
  • Allerdings übt das Oberste Gericht dabei eine wichtige Kontrollfunktion aus. Die 15 Richter können Entscheidungen der Regierung oder einzelner Minister auf ihre „Angemessenheit“ überprüfen. Dieses Prinzip ist nicht gesetzlich verankert, es hat sich durch die Rechtsprechung der Gerichte selbst herausgebildet. Das ist üblich im Common Law, das auch Israel anwendet. Die Gerichte berufen sich dann vor allem auf Präzedenzfälle.
  • Zuletzt wendete das Gericht das Angemessenheitsprinzip an, als Arye Deri zum Innen- und Gesundheitsminister berufen wurde. Das Gericht verbot dies, weil Deri bei einem Prozess eine mildere Strafe erhielt, nachdem er erklärt hatte, er würde kein öffentliches Amt mehr bekleiden.
  • Jetzt will Netanjahu das Angemessenheitsprinzip kippen, ein entsprechendes Gesetz ist bereits verabschiedet. Entscheiden darüber muss das Oberste Gericht. Es hat nach der Anhörung vergangene Woche 90 Tage Zeit.

Und wie weit kann das noch gehen? „Wenn wir nicht aufpassen, ist sogar ein Bürgerkrieg möglich. Die Mehrheit ist schon auf den Straßen, aber die Wahlen, in denen Demokratien über ihren Kurs entscheiden, sind noch nicht in Sicht“, sagt Orion. Damit meint er, dass die Zivilgesellschaft gegenwärtig einer rechten Regierung ausgeliefert ist, in der Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den radikalen religiösen Kräften und den Lobbyisten der Siedler - die Grenzen sind da fließend - alles durchgehen lässt.

Der banale Grund: „Bibi“, wie er von Freund und Feind genannt wird, will nicht ins Gefängnis. Seine Gegner wollen nicht nur die Justizreform verhindern, sondern würden am liebsten Neuwahlen erzwingen, in der Hoffnung, dass die Rechtsregierung dann abgewählt wird. In den aktuellen Umfragen hat sie ihre Mehrheit schon verloren.

Gericht muss über umstrittene Justizreform in Israel entscheiden

Dass ein eher seine Aussagen abwägender Experte wie Assad Orion sogar das Wort „Bürgerkrieg“ in den Mund nimmt, illustriert, wie zerrissen die israelische Gesellschaft ist. Jede Woche gehen Zehntausende auf die Straßen. Nicht nur die Reservisten streiken. Start-ups drohen mit Abwanderung, Netanjahu-Kritiker denken über Auswanderung nach. Sie alle protestieren gegen die Justizreform. Hinter dem harmlosen Titel verbirgt sich ein Anschlag auf die Gewaltenteilung. Schafft sich Israels Demokratie selbst ab?

Im Prinzip soll das Oberste Gericht ja jetzt selbst entscheiden, ob die rechte Regierung es faktisch entmachten darf. Die Experten gehen davon aus, dass die 15 Richter sich nicht juristisch kastrieren werden. Die Frage ist aber, ob die Regierung eine solche Entscheidung akzeptieren würde. Wie auch immer das ausgeht, klar ist, dass sich die Proteste ausweiten würden.

Mehr zum Thema

Nahost

Warum der Frust der Palästinenser jetzt immer größer wird

Veröffentlicht
Von
Walter Serif
Mehr erfahren

Denn auch die Befürworter der Justizreform protestieren Woche für Woche, allerdings in geringerer Zahl. Und sie drehen das Argument der „Bibi“-Kritiker einfach um. „Wir sind natürlich für die Justizreform“, sagt ein Demonstrant in Jerusalem, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. „Dass Netanjahu die Demokratie abschaffen will, ist doch Unsinn. Die Justizreform sichert doch erst die Demokratie. Das Oberste Gericht soll die Regierung endlich arbeiten lassen, dafür ist sie gewählt worden.“

Kein Wunder also, dass die Zivilgesellschaft gespalten ist. Bei den Netanjahu-Fans ist der Ton auch rauer. Auf der Bühne peitscht eine Aktivistin die Demonstranten auf und pestet mit schriller Stimme gegen Staatspräsident Izchak Herzog. Dieser hatte versucht, die Wogen zu glätten. „Das geht den überhaupt nichts an“, ruft sie.

Neuwahlen in Israel nicht in Sicht

Zwei Tage später herrscht dagegen ausgelassene Partystimmung in Jerusalem. Netanjahus Gegner haben sich in der Nähe des Amtssitzes des Präsidenten versammelt. „Wir wollen, dass Herzog sich mehr einmischt“, sagt Amit Baumel, der im Gegensatz zu den Befürwortern der Justizreform auf die Autorität des Staatsoberhaupts setzt.

Newsletter "Guten Morgen Mannheim!" - kostenlos registrieren

Die Leute sind fröhlich, aber müssten sie nicht traurig sein, immerhin lässt sich Netanjahu nicht von seinem Kurs abbringen? „Wir haben doch einiges erreicht. Es demonstrieren ja manchmal sogar Hunderttausende gegen Netanjahu. Und eingeknickt ist er ja auch schon“, widerspricht Amit Baumel. Es stimmt, die Regierung hat nach den heftigen Protesten Teile der Justizreform im Giftschrank verschwinden lassen. Doch dort müssen sie natürlich nicht bleiben. „Wir hoffen auf Neuwahlen“, sagt Baumel.

Wirklich keine Hoffnung mehr?

Doch die sind gegenwärtig nicht in Sicht. „Wir bewegen uns mit rasender Geschwindigkeit auf den Status eines Dritte-Welt-Landes zu. Unsere Gesellschaft ist so gespalten, dass wir an einer kollektiven Migräne leiden“, sagt die Publizistin Anita Haviv. Sie geht davon aus, dass die Armee dem Beschluss des Obersten Gerichts folgt. Und sie verweist darauf, dass die Demonstranten nicht nur in den großen Zentren Jerusalem und Tel Aviv ablaufen. „Es gibt 150 Orte, an denen sich der Protest Bahn bricht“, stellt sie klar, dass der Widerstand flächendeckend ist.

Es geht aber nicht nur um die Justizreform. Sie ist Auslöser, aber die Ursache der Krise liegt tiefer. „Es gibt in Israel keine gerechte Verteilung der Lasten. Alle sollten arbeiten, alle sollten Wehr- oder Zivildienst leisten und Steuern zahlen“, kritisiert Grisha Alroi-Arloser, früherer Geschäftsführer der Israelisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer. Diese Forderung geht an die Ultraorthodoxen, die sich aus der Gesellschaft ausklinken, von Sozialhilfe leben und den Wehrdienst verweigern. „Es ist unglaublich, aber wahr: Die Rechtskoalition will das Thorastudium dem Wehrdienst gleichstellen“, wettert Arloi-Alroser.

Nach 45 Jahren in Israel sieht er die multikulturelle Gemeinschaft gefährdet, weil der Zusammenhalt fehlt. „Wir haben Israel als das Athen Europas gegründet und zum Sparta entwickelt“, lautet seine betrübliche Bilanz. Und er legt nach: „Wir sind eine Stammesgesellschaft geworden, in der jeder nebeneinander her lebt. Die Orthodoxen. Die Araber. Die Russen. Die Siedler. Die orientalischen Juden. Die säkularen Juden.“ Hat er wirklich keine Hoffnung mehr? „Als ich anfangs auf die Demos gegangen bin, waren das nur ein paar Menschen. Jetzt sind das Massenveranstaltungen mit vielen jungen Leuten. Und die sagen zu mir: Lass mal Opa, wir machen das. Vielleicht schaffen sie die Wende.“

Redaktion Reporter für Politik und Wirtschaft

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen