Herr Dittrich, wie oft steigen Sie noch aufs Dach?
Jörg Dittrich: Nur noch selten. Wenn, dann zur Beratung von Kunden oder zur Baustellenkontrolle.
Sie kommen aus einer sehr künstlerischen Familie, Ihr Bruder und Ihre Mutter sind Musiker. Warum haben Sie sich für das Handwerk entschieden?
Dittrich: Tatsächlich gibt es in meiner Familie zwei „Strömungen“. Für mich war sehr zeitig klar, dass ich in die handwerkliche Richtung gehen möchte. Früher begleitete ich meinen Vater - auch Dachdeckermeister - auf Baustellen. Die verschiedenen Orte, das Arbeiten an der frischen Luft, die Lebendigkeit. . . das alles hat mich angezogen. Klar liebe ich auch die künstlerischen Dinge. Aber ich habe als Kind gesehen, wie mein Bruder dieselben Stücke immer und immer wieder üben musste. Das war nicht so meins. Beethovens 7. Symphonie ist himmlisch, wenn sie perfekt vorgetragen wird. Nur darf man halt keine andere Note verwenden. Im Handwerk hingegen darf man variieren, kreativ sein und auch anders zu meisterlichen Leistungen kommen.
Das Handwerk hat aber auch zu kämpfen. Personalnot, Kostenexplosion, Fachkräftemangel - wie schaffen Sie es, die Betriebe bei Laune zu halten?
Dittrich: Mir ist Optimismus in die Wiege gelegt, ich spiele ihn nicht. Aber natürlich nehme ich wahr, dass die Stimmung inzwischen bei sehr vielen Menschen schlecht ist. Es kommt einiges zusammen. Zuerst die großen Dinge, die wir selbst nicht beeinflussen können: der Krieg in der Ukraine, die Globalisierung, die Digitalisierung, die Corona-Pandemie, der demografische Wandel. Dann konkrete Dinge wie das Gebäudeenergiegesetz, das viele nicht verstehen. Alles verbunden mit den persönlichen Lebensumständen. Es herrscht großer Veränderungsdruck. Auch wir beim Zentralverband spüren das. . . und glauben Sie mir: Es ist heftig, was gerade an Stimmungen aufzunehmen ist.
Gelernter Dachdecker
- Jörg Dittrich wurde am 1. August 1969 in Dresden (Sachsen) geboren. Er stammt aus einer kunstaffinen Familie, sein Bruder zum Beispiel ist studierter Musiker und Generalintendant am Städtischen Theater Chemnitz.
- Nach der Ausbildung zum Dachdecker hat Dittrich berufsbegleitend ein Bauingenieur-Studium absolviert. Er leitet eine Dachdecker-Firma in vierter Generation mit rund 60 Beschäftigten und spricht spaßeshalber vom „Dittrich-Dachschaden-Team“.
- Dittrich, als Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) Nachfolger von Hans Peter Wollseifer aus Köln, bezeichnet sich selbst als Familienmensch. Er ist in zweiter Ehe verheiratet und hat insgesamt sechs Kinder, vier sind noch klein.
Wie sehr beunruhigt Sie das Erstarken der AfD?
Dittrich: Mich beunruhigt nicht das Erstarken einer einzelnen Partei. Mich beunruhigt, dass wir eine beständig hohe Zahl von Protestwählern haben. Viele Menschen fühlen sich nicht mehr genügend wahrgenommen. Laut einer Studie der Universität Hohenheim sind 25 Prozent hierzulande davon überzeugt, die Politik werde von „geheimen Mächten“ gesteuert. Das ist besorgniserregend.
Welches Bild gibt die Regierung in Berlin aus Ihrer Sicht ab?
Dittrich: Das Bild ist schlecht. Punkt.
Weshalb?
Dittrich: Die Gespräche, die ich mit Regierungsmitgliedern führe, sind gut. Aber ich wünsche mir, dass dem Austausch auch ein verändertes Handeln folgt, vor allem in Richtung Mittelstand. Das sehe ich nicht. Mit Mittelstand meine ich übrigens nicht nur die Betriebe, sondern auch die angestellte Tischlerin oder den Friseur im Betrieb.
Was könnte die Politik tun, um dem Handwerk zu helfen?
Dittrich: Es muss wieder Agenda-Zeit sein. Das Handwerk ist standortgebunden und kann sich den Standortnachteilen nicht entziehen. Dabei ist die Wettbewerbsfähigkeit existenziell. Lassen Sie mich drei Beispiele nennen: Der Wohnungsbau steckt in großen Schwierigkeiten, er stürzt regelrecht ab. Ohne ihn wird die Wirtschaft hierzulande nicht wieder wachsen, denn der Wohnungsbau ist eine Schlüsselbranche und trägt einen großen Teil zum Bruttoinlandsprodukt bei. Die Bundesregierung hat in Meseberg zwar steuerliche Anreize beschlossen, dabei geht es um erweiterte Abschreibungsmöglichkeiten für Wohngebäude. Das allein aber wird das Ruder nicht herumreißen. Wo ist das Gesamtkonzept? Alle Entscheider müssen an einen Tisch, das mahnen wir schon seit dem Frühjahr an.
Was ist der zweite Punkt?
Dittrich: Wir müssen dringend die Sozialversicherungssysteme und vor allem deren Finanzierung in den Fokus nehmen. Bei den Sozialversicherungsbeiträgen ist die 40-Prozent-Marke gerissen. Das macht die Arbeit - und das Handwerk ist besonders personal- und lohnintensiv - in Deutschland unglaublich teuer, und den Beschäftigten werden viele Milliarden an Kaufkraft entzogen.
Und zuletzt?
Dittrich: Deutschland hat sich zu lange auf der preiswerten Energie aus Russland ausgeruht. Jetzt aber macht uns der Energiepreis schwer zu schaffen. Eigentlich müsste die Regierung alle Hebel in Bewegung setzen, aber ich habe das Gefühl, dass sie das nicht tut. Die Pläne für einen Industriestrompreis helfen nur wenigen großen Industrieunternehmen, die regional tätigen Handwerksbetriebe würden leer ausgehen. Dabei haben auch sie mit hohen Energiekosten zu kämpfen. Wettbewerbsfähige Energiepreise brauchen alle.
Eigentlich müsste die Regierung alle Hebel in Bewegung setzen, aber ich habe das Gefühl, dass sie das nicht tut.
Gerade hat das neue Ausbildungsjahr begonnen. Warum tut sich das Handwerk so schwer, Nachwuchskräfte zu finden?
Dittrich: Erst einmal ist es so, dass durch den demografischen Wandel weniger junge Menschen aus der Schule auf den Arbeitsmarkt kommen. Das ist eine einfache mathematische Rechnung. Zudem müssen Sie sehen: Bildung ist für die Wohlstandsmehrung wichtig. Allerdings hat man Bildung über die Jahre hinweg lediglich auf Abitur und Studium verengt. Dabei ist die Meisterqualifizierung eine Fortbildung auf dem Qualifikationsniveau eines Bachelors und sicher eine, die den Wohlstand mehrt und nicht weniger wert ist als eine akademische. Und es kommt schon vor, dass man als Dachdeckermeister vielleicht sogar mehr Geld verdient als etwa ein Universitätsprofessor. Das Handwerk eröffnet viele Berufsperspektiven, gerade in zukunftsrelevanten Bereichen, das machen wir jungen Menschen immer wieder klar. Und es ist wichtig, dass wieder mehr junge Leute diese Chancen, die sich ihnen im Handwerk bieten, auch ergreifen und eine Ausbildung starten, weil sonst bestimmte Dienstleistungen nicht mehr angeboten werden können. Sei es die schicke Frisur oder der Einbau von Wärmepumpen, die wir für die Energiewende brauchen.
Kommen wir zur Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz. Oft werden andere Branchen damit in Verbindung gebracht. Geht das alles am Handwerk vorbei?
Dittrich: Nein. Auch das Handwerk nutzt die ihm vorliegenden Daten und die Chancen und Möglichkeiten, die sich daraus ergeben. Ein Beispiel: Ich kenne Fleischereien, die mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz Wetterprognosen auswerten. Mit Blick auf ein sonniges Wochenende, das sich perfekt zum Grillen eignet, können sie die Kühltheke entsprechend bestücken. In meiner Firma tüfteln wir übrigens an einem Dachroboter. In Zeiten von Fachkräftemangel und steigenden Löhnen lohnt es sich, darüber nachzudenken, wo solche Roboter Routinetätigkeiten übernehmen können.
Was kann der Dachroboter?
Dittrich: Dachziegel verlegen kann er schon mal nicht (lacht). Stellen Sie sich Flachdächer von Einkaufsmärkten, Produktionshallen oder Schulen vor. Dort wird ein irrsinniges Volumen von Dämmplatten verlegt. Der Dachroboter könnte die Platten an eine bestimmte Ecke fahren und dort verlegen. Die Maschine entsteht in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Dresden. Noch ist es ein Prototyp. Leider kann ich noch nicht sagen, wann er marktreif sein wird.
Auf der einen Seite lebe ich in einer permanenten Überlastung, weil ich für meine Kinder da sein möchte und als Handwerkspräsident mehr als ein Frühstücksdirektor sein will.
Sie stehen seit Januar dieses Jahres an der Spitze des deutschen Handwerks. Wie lassen sich die Verpflichtungen eines ehrenamtlichen Handwerksfunktionärs mit den Aufgaben als Vater und den Herausforderungen als Unternehmer in Einklang bringen?
Dittrich: Ich will ehrlich sein: Auf der einen Seite lebe ich in einer permanenten Überlastung, weil ich für meine Kinder da sein möchte und als Handwerkspräsident mehr als ein Frühstücksdirektor sein will. Ja, ich bin öfter müde - aber das ist halt so. So wie mir geht es vielen Menschen. Vielleicht muss man das einfach ein Stück weit akzeptieren. Auf der anderen Seite ist Fakt: Die Neugierde und der Wille mitzugestalten sind bei mir so groß, dass ich jeden Tag mit Freude erlebe.
Wie ich erfahren habe, lieben Sie Witze. Natürlich müssen Sie mir zum Schluss noch einen erzählen.
Dittrich: Tatsächlich erzähle ich immer gerne einen Witz - auch bei Grußworten auf Veranstaltungen. Also gut: Steht der Meister mit dem Lehrling auf der Baustelle. Fragt der Lehrling: „Dort auf dem Gerüst, sind das Tauben oder Maurer?“ Sagt der Meister: „Wenn es sich bewegt, sind es Tauben.“
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/wirtschaft_artikel,-wirtschaft-warum-handwerkspraesident-joerg-dittrich-die-ampel-kritisiert-_arid,2121190.html