Ramstein. Il Cardioide – das durchstoßene Herz“: Welch eine schicksalsträchtige Bezeichnung für ein Piloten-Kunststück! Sein Misslingen sollte am 28. August vor 35 Jahren das Flugschau-Volksfest auf der US Air Base Ramstein in ein flammendes Inferno verwandeln, bei dem mindestens 70 Menschen den Tod fanden und Hunderte schwere Verletzungen erlitten. Jene, die zwar überlebten, aber geliebte Angehörige verloren, spüren den traumatischen Stoß ins Herz, besser gesagt in die Seele, bis heute. Selbst wenn sie es inzwischen geschafft haben, wieder nach vorn zu schauen.
15.44 Uhr in Ramstein: Drei Flugzeuge der Staffel „Frecce Tricolori“ kollidieren
Rückblick: Die Flugschau mit über 300 000 Menschen neigte sich bereits dem Ende zu, als zum Höhepunkt die „dreifarbigen Pfeile“ – so der Name der italienischen Kunstflugstaffel „Frecce Tricolori“ – mittels Kondensstreifen ein Herz an den blauen Himmel malten. Solopilot Ivo Nutarelli sollte die Figur nach einem Looping knapp über den anderen neun Jets durchstoßen. Obwohl die berühmte Staffel dieses Spektakel schon mehr als zwei Jahrzehnte unfallfrei vorgeführt hatte, erreichte an diesem Sonntagnachmittag der als Perfektionist geltende einstige Starfighter-Flieger mit seiner Maschine den Kreuzungspunkt zu früh und zu niedrig: Um 15.44 Uhr kollidierten drei der Flugzeuge und fielen vom glutroten Himmel.
Bis heute steht die Frage im Raum: Warum durfte das Schau-Manöver in Richtung Publikum ausgeführt werden? Die als Feuerball herab gestürzte Solomaschine sollte in die Menschenmenge schlittern und dabei den scharfkantigen Stacheldraht, eigentlich schützende Absperrung des Flugfeldes, glühend mit sich reißen. An diesem Hochsommertag „regnete“ es Kerosin, „hagelte“ es Trümmerteile.
Mutter weiß nicht, wohin ihr verletzter Sohn gebracht wird
Brennende Wrackteile begruben damals den kleinen Marc-David unter sich. Seine leicht verletzte hochschwangere Mama buddelte ihn aus. „Meine Mutter hat mir zum zweiten Mal das Leben geschenkt“, wird Marc-David Jung Jahre später sagen. Dass der Papa von dem so fröhlich begonnenen Familienausflug nicht mehr zurückkehren würde, ahnte der Junge nicht.
Als er im Mannheimer Klinikum, das bis heute für massiv brandverletzte Kinder Spezialbetten vorhält, behandelt wurde, gab es zunächst keine tröstende Mama. Denn die wusste gar nicht, wohin der kleine Sohn gebracht worden war. So wie der Vierjährige lagen auch Erwachsene ohne geklärte Identität in Hospitälern. Nach der Klinikentlassung sollte Marc-David Jung im Laufe der Jahre mehr als 30 Mal operiert werden – insbesondere zur Rekonstruktion des Gesichtes.
Sichtbare Narben sind geblieben. Aber die hat der studierte Informatiker, der im Saarland lebt und in Luxemburg als Softwarentwickler arbeitet, akzeptiert. „Ich bin dankbar, überlebt zu haben und schaue positiv in die Zukunft“, betont der 39-Jährige im Gespräch mit dieser Redaktion.
Die Katastrophe von Ramstein: Das kollektive Gedächtnis lässt nach
An das eigentliche Unglück hat er keine Erinnerungen – und damit auch keine Schreckensbilder, die sich immer wieder Bahn brechen könnten. Dies habe ihm geholfen, sein Schicksal zu verarbeiten, so Marc-David Jung Sein älterer Halbbruder, der mit Freunden die Flugschau besucht hatte, befindet sich bis heute psychologischer Behandlung – obwohl er körperlich keine Verletzungen davon getragen hat. Seine Erlebnisse am Tag der Katastrophe und danach sind mit dem Verlust des Vaters verwoben.
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Den 28. August 1988 dürften Menschen, die das Flugschau-Unglück im wahrsten Sinne des Wortes hautnah erfahren haben, nicht vergessen. „Als sei alles gestern gewesen“, sagen jene, bei denen hinterher nichts mehr war wie zuvor. Hingegen beginnt im kollektiven Gedächtnis die Katastrophe zu versickern. Als 2021 für den ARD-Film „Ramstein – Das durchstoßene Herz“ Komparsen gecastet wurden, hatten viele angenommen, es gehe um die Band „Rammstein“.
Roland Fuchs gehört zu den Überlebenden, die sich dafür einsetzen, die Erinnerung wachzuhalten. Aus Respekt für die Opfer. Für sie hat er 2005 seine Geschichte aufgeschrieben. Auch die seiner Frau und der kleinen Tochter. Freimütig erzählt Roland Fuchs, dass er und seine 16-jährige Freundin Carmen ziemlich wenig Unterstützung bekamen, ja Unverständnis ernteten, als sie sich für ihr ungeplantes Baby entschieden. Als Nadine auf die Welt kam, hatte der junge Papa gerade seine Schreinerlehre beendet und eine „gute“ Stelle. Das Paar war auf die kleine Familie „stolz“ , hatte „große Zukunftspläne“ – bis zum 28. August 1988.
Ein vermeintlicher Kleiderfetzen ist die eigene Haut
Ein herabstürzendes Wrackteil erschlug die 21-jährige Carmen Fuchs. Die fünfjährige Nadine erlag am Beerdigungstag der Mama ihren Brandverletzungen. Und Roland Fuchs kämpfte mit großflächigen Verbrennungen, die rund 60 Prozent seines Körpers bedeckten. Jahre später blickte er auf die ersten Minuten nach dem Knall zurück: „Ich fiel mit dem Gesicht zu Boden. Während des Sturzes spürte ich, dass mein ganzer Körper nass gespritzt wurde. Es war Kerosin, das sich sogleich entzündete.“
Als es dem 23-Jährigen gelang, aufzustehen, sah er um sich Tote und Verletzte. „Viele waren schwarz verkohlt, andere brannten noch.“ Er brauchte eine Weile, um zu merken, dass der vermeintliche Kleiderfetzen seine eigene Haut war, „die beim Ziehen immer länger wurde“. Erst dann begann er „höllische Schmerzen“ zu spüren. Roland Fuchs überlebte. Seine Hoffnung, wieder in den erlernten Beruf einzusteigen, erwies sich als Illusion. „Ich musste akzeptieren, mit meinen Behinderungen zu leben.“
Gelernt, mit Ramstein zu leben
Wie so viele andere bedarf er auch Jahrzehnte nach dem Unglück medizinischer Therapien, um das zu erhalten, was mit Operationen erreicht worden ist. Roland Fuchs wurde und wird häufig gefragt, warum er mit Ramstein nicht endlich abschließt – zumal er ein zweites Mal geheiratet hat und glücklicher Vater von drei (inzwischen erwachsenen) Töchtern ist. „Dann sage ich, dass auch nach so vielen Jahren meine Lieben nicht wieder lebendig werden. Und dass mir auch nach so vielen Jahren immer noch keine gesunde Haut nachgewachsen ist.“ Er betont aber auch, gelernt zu haben, mit Ramstein zu leben.
Allerdings ließ ihn, wie so viele andere, nicht los, dass nach der Katastrophe Fragen offen blieben. Längst gilt als offenes Geheimnis: Weil das US-Militär keinen Notfallplan hatte, mündeten die Rettungsmaßnahmen mit viel zu wenigen Sanitätern, die ohnehin auf Kreislaufkollapse, Sonnenstiche und Schnittwunden eingerichtet waren, in ein Chaos. Auch deshalb, weil die im Vietnamkrieg entwickelte, aber bei zivilen Katastrophen untaugliche Taktik des „Load und Go“ im Sinne von Aufladen und Abtransportieren weder eine Sichtung mit medizinischer Beurteilung des Gesundheitszustandes der Verletzen noch eine Erstversorgung vor Ort, beispielsweise mit Flüssigkeitsinfusionen, vorsah.
Fehlende Koordination bei Rettung: „medizinische Katastrophe nach der eigentlichen Katastrophe“
Für das vor einigen Wochen erschienene Buch „Als der Tod vom Himmel stürzte“ hat Autor Patrick Huber den einstigen Notarzt Klaus-Peter Wresch interviewt, der zur Besatzung des bei der Ludwigshafener BG Klinik stationierten Rettungshubschraubers Christoph 5 gehört hatte. Wresch kommentiert rückblickend, dass Verletzte „ohne jede Koordination oder Planung“ in Fahrzeuge und Hubschrauber geladen und teilweise in Kliniken gebracht wurden, die schon aufgrund der Zahl eingelieferter Verletzten überfordert waren.
So musste von den 120 ins Medical Center Landstuhl transportierten Menschen ein Großteil der Schwerverletzten weiterverlegt werden – „davon die meisten noch absolut unterversorgt“. Von einer „medizinischen Katastrophe nach der eigentlichen Katastrophe“ spricht der inzwischen pensionierte Chefarzt, der nie ein Blatt vor den Mund genommen hat.
Ursprünglich sollte ein Kollege, Notarzt Uwe Hoppe, im Helikopter Christoph 5 sitzen. Er hatte sich aber einen freien Tag genommen. Dennoch ist der damals 35-Jährige nach einem Telefonanruf und ersten Radiomeldungen in das auf Unfälle spezialisierte Ludwigshafener Krankenhaus gefahren – nichtsahnend, welche Ausmaße das Unglück hatte.
Wimmernde Schwerverletzte: Ortsunkundiger US-Soldat irrt mit Bus durch die Gegend
Er erinnert sich noch gut daran, dass sein damaliger Chef Versorgungsteams einteilte – jeweils mit einem erfahrenen und weniger erfahrenen Chirurgen. Ein gutes Jahr später wird BG-Chefarzt Peter-Rudolf Zellner ein Fachbuch über „Die Versorgung des Brandverletzten im Katastrophenfall“ mit kritischen Analysen zu Ramstein herausgeben. Dass auf der US Airbase nach der Jet-Kollision Chaos herrschte, bekam auch Uwe Hoppe mit.
Beispielsweise irrte ein ortsunkundiger junger US-Soldat mit einem Bus, der wimmernde Schwerverletzte in das Verbrennungszentrum bringen sollte, durch die Gegend, ehe er Ludwigshafen erreichte, dort aber das Klinikum ansteuerte, von wo aus stundenlang unterversorgte Brandopfer in die BG -Klinik weiterverlegt werden mussten. Uwe Hoppe, inzwischen Chefarzt für Anästhesie, Intensiv- und Schmerzmedizin, berichtet: Damals habe sich die unverzichtbare Rolle von integrierten Leitstellen für die Kooperation von Rettungsdiensten wie Feuerwehr gezeigt. Und Schockräume seien nach der Flugkatastrophe ausgebaut und standardisiert worden – beispielsweise mit „festen Checklisten“ zur Erstversorgung. Angesichts der noch lange andauernden Herausforderungen, so Hoppe, „hat sich in der BG Klinik ein unglaubliches Teamgefühl entwickelt“.
Nachsorgegruppe für traumatisierte Menschen
Zu den späteren Lernerfahrungen gehört auch, wie wichtig seelische Nachbetreuung ist – von Überlebenden, Angehörigen und Helfern. Als das Ehepaar Sybille und Hartmut Jazko – sie Gesprächstherapeutin, er Facharzt für Psychotherapie – gemeinsam mit Seelsorger Heiner Seidlitz eine Nachsorgegruppe für traumatisierte Menschen gründeten, wurde ihr ehrenamtliches Engagement misstrauisch beäugt. Denn damals galt, dass die Zeit alle Wunden heile. Längst hat die Traumaforschung aber offenbart: Zeit kann in Kombination mit therapeutischem Beistand allenfalls helfen, Wunden besser zu ertragen.
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