Henri Nannen, Rudolf Augstein und Axel Springer sitzen auf einer winzigen Insel in der Sonne. Das Festland ist nur ein paar Meter entfernt. Sie unterhalten sich.
Nach einiger Zeit sagt Augstein: „Ich habe Hunger. Wie wär’s mit etwas zu essen?“
Springer sagt: „Gute Idee.“
Augstein steht auf, läuft über das Wasser bis zum Hafen, geht ins Restaurant und kommt – wieder über das Wasser gehend – mit drei Hühnchen zurück.
Henry Nannen traut seinen Augen nicht. Er ist aufgeregt.
Die drei Männer essen die Hühnchen.
Dann Springer zu Augstein: „Es wäre doch schön, jetzt etwas zu trinken.“
Augstein nickt. Springer steht auf und läuft ebenfalls über das Wasser zum Hafen. Er kehrt mit drei Flaschen Bier zurück. Die drei Männer sitzen in der Nachmittagssonne und trinken. Nannen ist völlig durcheinander.
Springer: „Ehrlich gesagt, eine Zigarre wäre großartig.“ Er sieht Nannen an.
Augstein: „Für mich bitte Zigaretten, ja?“
Nannen nimmt seinen ganzen Mut zusammen. Er denkt sich, das muss doch auch bei mir funktionieren. Er steht also auf, läuft los – und klatscht ins Wasser.
Daraufhin Augstein zu Springer: „Na, man muss schon wissen, wo die Steine liegen.“
Über diese Steine, meine verehrten Damen und Herren, soll ich sprechen. Ich habe dafür zehn Minuten bekommen. Das vorgegebene Thema lautet: „Die Krise des Journalismus“.
Offen gesagt: Ich bin dafür der Falsche. Ich bin Schriftsteller und kein Journalist. Sie, meine verehrten Damen und Herren, zeigen die Wirklichkeit – für mich ist sie nur der Rohstoff für das Schreiben. Ihnen muss es um Wahrheit gehen – mir nur um Wahrhaftigkeit. Und wo Sie mitten in dieser sehr bunten, sehr lauten und sehr schnellen Welt stehen, gehe ich lieber abseits im Regen ein bisschen spazieren.
Es tut mir also leid, ich weiß nicht, wo die Steine liegen. Und es ist wirklich albern zu glauben, nur weil einer ein paar Bücher geschrieben hat, weiß er irgendetwas besser. Ich kann Ihnen deshalb nur sagen, was ich als einfacher Leser, Zuhörer und Zuschauer denke.
Der Verlust von Auflage, Abonnements und Werbekunden, das Verschwinden ganzer Zeitungen, ja, das alles ist beunruhigend. Aber darf ich Ihnen eine Frage stellen? Ist das vielleicht gar keine Journalismuskrise? An den Nachrichten selbst kann es ja kaum liegen, die sind und waren immer interessant. Ist es also nicht eher die Krise eines Geschäftsmodells?
I.Vielleicht wird es klarer, wenn wir uns die Anfänge anschauen.
Im Jahr 59 vor Christus wollte Julius Caesar die Macht des Senats schwächen. Der Senat tagte im Geheimen, die Römer wussten nicht, was dort beraten wurde, weshalb welche Entscheidungen getroffen wurden und wer für was stimmte. Also erfand Caesar die „Acta diurna“. Wörtlich heißt das so viel wie: „Ereignisse des Tages“. Die Verhandlungsprotokolle des Senats und andere offizielle Verlautbarungen wurden auf Tafeln im Forum ausgehängt. Politisch war das zwar klug, allerdings waren die Texte auch ein wenig trocken.
Verhandlungsprotokolle und Gesetzgebungsverfahren – wer liest so etwas schon gerne? Also erschien auf diesen öffentlichen Tafeln nach Kurzem bereits all das, was heute noch Zeitungen ausmacht: Geschichten über römische Prominente, Berichte von Todesfällen, von Hochzeiten und von Gladiatorenspielen. Und natürlich waren Skandale die aufregendsten Nachrichten. Sogar eine Art Horoskop gab es schon, eine priesterliche Vorhersage nach der Eingeweideschau von Vögeln.
Wenn man wohlhabend war, ließ man einen Sklaven diese Anschlagbretter abschreiben und schickte die Neuigkeiten in die Provinz. Und Provinz war ja alles außerhalb Roms. Die „Acta“ erschienen fast 300 Jahre lang. Es gab nie ein Problem mit dem Geschäftsmodell, weil es noch gar kein Geschäftsmodell gab.
Das änderte sich mit der ersten gedruckten Zeitung der Welt. Sie erschien in Straßburg im September 1605 und hieß „Relation aller Fürnemmen und gedenckwürdigen Historien“, also „Bericht von allen wichtigen und bemerkenswerten Vorfällen“. Der Chefredakteur, obwohl diese Bezeichnung natürlich noch nicht erfunden war, hieß Johann Carolus, er war der Sohn eines Pfarrers, ein gebildeter, junger Mann, der klug geheiratet hatte und dadurch im Ständewesen das neue Geschäft betreiben konnte. Wir wissen nicht, an welchem Tag er die „Relation“ zum ersten Mal herausbrachte, aber was wir wissen, ist, dass bereits mit dieser ersten Zeitung das begann, was heute die „Krise des Journalismus“ genannt wird: Johann Carolus hatte Probleme mit seinem Geschäftsmodell. Am 21. Dezember 1605 bat er den Magistrat von Straßburg, seine Zeitung gesetzlich vor „Nachdrucken“ zu schützen.
Erinnert Sie das nicht an Australien im Jahr 2021? Google drohte Australien mit der Abschaltung der Suchfunktion auf dem ganzen Kontinent. Grund war ein Gesetzesvorhaben der Regierung, wonach Google den lokalen Medien Geld für die Verbreitung ihrer Artikel zahlen sollte. Australien ist das weltweit erste Land, das sich vehement gegen Internetplattformen wie Google oder Facebook wehrt.
Eine Google-Managerin sagte: „Sollte diese Fassung der Medienrichtlinie Gesetz werden, dann hätten wir wirklich keine andere Wahl, als die Google-Suchfunktion in Australien nicht mehr zugänglich zu machen.“ Die Antwort des australischen Ministerpräsidenten Scott Morrison kam prompt. Sie lautete: „Lassen Sie mich eins klar sagen: Australien legt die Regeln fest für das, was man in Australien tun darf. Das geschieht in unserem Parlament.“ Er hat recht. Nur die Bürgerinnen und Bürger sollen entscheiden, was in ihrem Land passiert. Genau das zeichnet einen demokratisch verfassten Rechtsstaat aus.
Ferdinand von Schirach
- Der Jurist, Schriftsteller und Dramatiker wurde auch als Strafverteidiger in den Mauerschützenprozessen bekannt.
- Schirach veröffentlicht Texte im „Spiegel“, Kurzgeschichten erschienen auch in der „Süddeutschen Zeitung“ und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.
- Der 58-Jährige ist einer der wenigen deutschen Schriftsteller, die international erfolgreich sind. So wurde „Der Fall Collini“ 2013 in England öfter verkauft als John Grishams letzter Roman. In Japan wurde auf dem Grand-Prix für Internationale Kriminalliteratur der Kurzgeschichtenband Verbrechen nach „Der Name der Rose“ auf Platz 2 der 100 besten Krimis aller Zeiten gewählt.
Im Straßburg des Jahres 1605 war das noch anders: Der Magistrat lehnte Johann Carolus’ Bitte ab, seine Zeitung wurde nicht geschützt. Mit dem Urheberrecht war es damals einfach noch nicht weit her, die gleichen Probleme gab es auch in der Kunst: Als Albrecht Dürer im Jahr 1520 in die Niederlande aufbrach, wollte er dort vor allem gegen Verleger vorgehen, die seine Stiche nachdruckten, ohne dafür zu zahlen. Erfolg hatte auch er kaum.
Aber wir heute, wir müssen uns als Gesellschaft anders entscheiden. Wenn jeder mühsam recherchierte, erarbeitete und geschriebene Text von Google und Facebook kostenlos verbreitet werden darf, kann Journalismus nicht funktionieren. Wenn ein Bäcker alle Brötchen verschenkt, nutzt ihm die Freude wenig, dass die Leute seine Brötchen mögen. Unser Vorbild sei also Australien, nicht Straßburg.
II. Der zweite Grund für die behauptete Journalismuskrise ist, glaube ich, ebenso offensichtlich. Die Menschen sind heute nicht mehr nur Empfänger von Nachrichten, sie sind sehr mächtige Sender geworden. Manche scheinen das noch immer nicht verstanden zu haben.
Denken Sie zum Beispiel an die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“. Im Oktober letzten Jahres gab Jan Böhmermann zu seinem neuen Buch der „FAS“ ein Interview. Tatsächlich erschien statt dieses Interviews ein Text über einen Roman.
Böhmermann schrieb daraufhin auf Twitter einen Brief an Jürgen Kaube, den für Kultur zuständigen Mitherausgeber der „FAZ“. Ihm sei zugetragen worden, Kaube habe den Abdruck des Interviews verhindert und die Redaktion angewiesen, es auch später nicht zu veröffentlichen. Er, Böhmermann, wolle gerne wissen, warum das so sei.
Auf Böhmermanns offenen Brief reagierte die Zeitung nicht. Es hieß lediglich: „Die FAZ kommentiert redaktionelle Entscheidungen nicht.“
Vor 20 Jahren wäre damit die Sache erledigt gewesen. Zeitungen hatten damals eine enorme Macht. Sie waren diejenigen, die Meinungen im Land lenken konnten – was nicht in der Zeitung stand, im Fernsehen gezeigt oder im Radio besprochen wurde, gab es schlicht nicht. Aber heute ist eine solche Haltung, ganz vorsichtig gesagt, ein Fehler. Böhmermann veröffentlichte nämlich kurz darauf das gesamte Interview einfach selbst auf Twitter.
Und was bedeutet das? Nun, die „FAS“ verkauft gerade noch 200.000 Exemplare, Tendenz sinkend. Ein Text im Feuilleton dieser Zeitung wird nur noch von etwa 5000 Menschen gelesen. Böhmermann dagegen hat über 2,2 Millionen Follower auf Twitter, Tendenz steigend. Jeder seiner Tweets wird von seinen Fans und Gegnern gelesen und kommentiert. Wie wird so eine Sache wohl am Ende ausgehen?
Weil Böhmermann Böhmermann ist, wurde das Interview auf Twitter übrigens sehr lustig. Kaube hatte nämlich gerade ein dickes Buch über Hegel geschrieben. Und deshalb klangen die Antworten Böhmermanns jetzt so:
„FAS: Gibt es eigentlich ein Rezept für einen erfolgreichen Tweet?“
Böhmermann: „Ich habe kürzlich ,Hegel ist cool‘ geschrieben, das war recht erfolgreich. Ich weiß ich aber nicht, warum.“
Öffentlichkeit ist heute nicht mehr nur Presse. Neben der vierten Macht existiert seit vielen Jahren eine fünfte. Eine Deutungshoheit durch die Presse gibt es schlicht nicht mehr. Das ist ebenso vorbei wie der Kassettenrekorder, die Telefonzelle und Schreibmaschine.
Christian Drosten kann mit einem einzigen Tweet Angriffe der „Bild“-Zeitung ins Leere laufen lassen, und Politikern gelingt es immer wieder, mit nächtlichen „Ausrutschern“ auf der Tastatur ihr Lebenswerk zu ruinieren. Es ist töricht und überheblich, das im Jahr 2021 immer noch nicht zu begreifen.
III. Und dieser zweite Punkt bringt mich zu einem dritten. Haben Sie sich schon überlegt, wie Ihr ideales Büro aussehen soll? Das Eckzimmer des Chefredakteurs mit den zwei Fenstern über der Stadt? Ein alter oder ein neuer Schreibtisch? Ein Eames-Lounge-Chair zum Entspannen vielleicht? Welche Fotos? Wollen Sie den neuen farbigen iMac?
Ich glaube, Reden vor einer Abschlussklasse sind ziemlicher Blödsinn. Ich weiß nichts besser als Sie. Was einen älteren Menschen von einem jüngeren unterscheidet, ist nur, dass der Ältere besser weiß, was Zeit ist. Genauer, was vergehende Zeit ist. Ich weiß besser als Sie, dass alle Dinge mit dem Ablauf von Zeit weniger scharfkantig werden, weniger verletzend. Aber wenn ich das sage, kann es Ihnen nichts bedeuten. Wenn Sie einen geliebten Menschen verlieren, wissen Sie in meinem Alter, wie sich dieser Verlust nach zehn Jahren und nach 20 Jahren und nach 30 Jahren verändert. Ich kann zwar versuchen, es Ihnen zu beschreiben, aber das wird Ihre eigene Erfahrung nicht ersetzen.
Aber was Sie längst schon erfahren haben, ist, dass, ganz gleich, wie intelligent oder gebildet Sie sind, ganz gleich, wie gut Sie rechnen oder schreiben können – es gibt immer im Saal mindestens eine Person, die intelligenter oder gebildeter ist als Sie und die besser schreiben und rechnen kann. Und das wird sich auch nicht ändern, wenn Sie älter werden. Im Gegenteil.
Fast alle Forscher gehen davon aus, dass sich das Wissen der Welt im Moment alle fünf bis zwölf Jahre verdoppelt. Sie können, anders als Ihre Urgroßeltern, heute ungefähr erklären, wie ein Handy funktioniert, was eine CO2-Bilanz ist und warum man am Abend keine Kohlenhydrate zu sich nehmen sollte. Aber wie wir alle wussten Sie vor zwei Jahren vermutlich nicht, was die Worte Aerosole und PCR bedeuten.
Sie werden wahrscheinlich auch leichte Schwierigkeiten mit dem Satz haben, dass abgewandelte tRNA-Moleküle der Schlüssel zwischen Replikation und Translation sind und dass dies die Grundlage für das Verständnis des hydrothermalen Mikrosystems der frühen Erde ist. Bereits für Ihre Enkelkinder könnte das aber so selbstverständlich sein wie für Sie das Wissen über Gene und die Doppelhelix.
Und genau diese Erfahrung müssen Sie auf die angebliche Krise des Journalismus übertragen.
Sie werden niemals in der Lage sein, den klügsten Post in den sozialen Netzwerken zu einem Thema zu schreiben. Facebook hat seinem Börsenbericht 2020 zufolge weltweit rund 2,5 Milliarden aktive Nutzer – und darunter wird es immer jemanden geben, der origineller, bösartiger und lustiger ist als Sie. Und oft ist es nicht nur einer, es sind Tausende. Damit müssen Sie sich abfinden.
Aber Sie können etwas anderes sehr viel besser: Sie können uns Lesern von Tatsachen berichten. Sie können sich ins Flugzeug setzen und sich anschauen, warum sich das Schiff im Suezkanal verkeilt hat. Sie können die Frachtpapiere studieren, mit den Händlern sprechen und uns dann erklären, was das für die Weltwirtschaft bedeutet. Sie können herausbekommen, ob der Kapitän des Schiffs betrunken war, verliebt, verrückt – oder alles zusammen. Das sind Tatsachen, keine Meinungen. Der Wirecard-Skandal wurde von der Presse aufgedeckt, nicht von den sozialen Medien. Die Panama Papers wurden von der Presse aufbereitet, nicht von den sozialen Medien.
Diese ganze scheußliche Maskenaffäre – das haben Ihre Kolleginnen und Kollegen ermittelt, nicht etwa die Nutzer von Facebook, Instagram oder Twitter. Nur mit Tatsachen können Sie unschlagbar sein, und genau deshalb ist das Ihre Zukunft. Überlassen Sie die Kommentare den anderen. In den sozialen Medien ist man für etwas oder gegen etwas. Man ist für oder gegen den Klimaschutz, für oder gegen Flüchtlinge und für oder gegen Armin Laschet. Aber für oder gegen Tatsachen zu sein ist sinnlos. Niemand kann die Tatsachen leugnen, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt und dass das Virus Menschen tötet. Man kann ja auch nicht für oder gegen die Schwerkraft zu sein – außer man ist verrückt.
Wenn Sie Tatsachen ermitteln und über sie schreiben, retten Sie nicht nur Ihren Berufsstand – Sie helfen den arg gebeutelten Demokratien. Das ist heute ja oft das Gleiche. In Polen und Ungarn werden die Medien mittlerweile überwiegend von den Regierungen kontrolliert. Der frühere Ministerpräsident der Slowakei, Robert Fico, bezeichnete die Presse als „dreckige, antislowakische Prostituierte“, Journalisten seien „schleimige Schlangen“ und „Klospinnen“. Der tschechische Präsident Milo Zeman posierte mit einer Gewehrattrappe, auf die die Worte „Für Journalisten“ eingraviert waren. Ungarns Ministerpräsident behauptet laufend, Flüchtlinge brächten Krankheiten und Kriminalität ins Land und George Soros wolle auf einen „Bevölkerungsumtausch“ hinaus.
In Deutschland behaupten Teile der AfD immer wieder, der sogenannte Sturm auf den Reichstag sei vom Verfassungsschutz initiiert worden und Corona sei nur ein Schnupfen. Oder denken Sie an Donald Trump. Er machte als Präsident 30.000 falsche oder irreführende Aussagen. Obwohl er jedes Verfahren vor Gericht verlor, behauptet er immer noch, er habe die Wahl gewonnen. Wohin solche Lügen führen, haben wir gerade am 6. Januar gesehen: Der Mob stürmte das Kapitol.
Im Pressefreiheitsindex werden sieben EU-Mitgliedstaaten nur mehr als „teilweise frei“ eingestuft: Italien, Polen, Rumänien, Kroatien, Bulgarien, Griechenland und – hinter Mali und der Mongolei – Ungarn. Auch Deutschland wurde in diesem Jahr auf lediglich „zufriedenstellend“ herabgestuft. Dagegen, meine Damen und Herren, müssen Sie sich stellen, unbedingt. Aber nicht mit Ihrer Meinung, nicht indem Sie sagen, irgendetwas sei „not nice“, sondern mit den von Ihnen ermittelten Tatsachen.
Das scheint mir, wenn ich das als einfacher Leser sagen darf, heute Ihre Aufgabe – und mehr noch: Es ist Ihre Pflicht. Nur selten in der Geschichte war diese Art von Journalismus so notwendig, so bedeutend und so unabdingbar. Deshalb gibt es, soweit ich das jedenfalls als Leser beurteilen kann, überhaupt keine Krise des Journalismus.
Und weil Sie, meine verehrten Damen und Herren, da draußen sind und für uns, für Ihre Leser, Zuhörer und Zuschauer, arbeiten, weil Sie Tatsachen ermitteln und uns sagen, „was ist“, ist Ihr ideales Büro – leer.
IV. Ich glaube also, Sie können die sogenannte Krise des Journalismus und das Gerede darüber beenden. Und Sie können das besser als irgendeine Generation vor Ihnen. Warum? Weil Sie die erste Generation sind, für die das jahrhundertelang gegebene Glücksversprechen nicht mehr gilt. Schon immer sagten Eltern zu ihren Kindern: „Wenn ihr euch anstrengt, werdet ihr es besser haben als wir. Ihr werdet ein größeres Haus bewohnen, ein schnelleres Auto fahren und weitere Reisen machen können. Ihr müsst nur fleißig sein.“ Aber genau das stimmt nicht mehr. Ein größeres Haus hat heute keinen Sinn mehr.
Ein schnelleres Auto ist genauso albern wie weitere Reisen. Ihr Wohlstand, meine verehrten Damen und Herren, hat nichts mehr mit Ihrem Kontoauszug zu tun. Und Ihr Glück schon gar nicht. Sie können sich kein besseres Leben kaufen als das, das Ihre Eltern hatten. Eine Karriere, die auf Geld gerichtet ist, ist ganz und gar sinnlos geworden (sie war es ohnehin schon immer). „Die Welt zu einem besseren Ort machen“ – das ist ein Satz, der schon in viel zu vielen Netflix-Serien vorkommt. Er wird zu oft von den falschen Leuten und den falschen Firmen gesagt, und er klingt wie ein Autoaufkleber aus den Neunzigern. Aber er ist deshalb leider nicht falsch – es bleibt Ihnen ja tatsächlich nichts anderes übrig.
V. Wenn Sie jetzt hinausgehen und Ihr berufliches Leben beginnen, werden Sie natürlich sofort alles vergessen, was ich gesagt habe. Ich erinnere mich auch an kein einziges Wort, das mir mein ausbildender Richter bei der Verabschiedung sagte. Aber ich weiß noch, dass er aufstand und mir zum ersten Mal die Tür aufhielt. Wenn ich könnte und dieses blöde Virus nicht eine virtuelle Feier bedingt hätte, würde ich das jetzt auch gerne für Sie tun.
Ich wünsche Ihnen viel Freude in Ihrem schönen Beruf.
Dieser Text folgt der Rede von Schirachs beim Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus, den die „FreeTech – Axel Springer Academy of Journalism and Technology“ im Juni zum 30. Mal vergeben hat. „MM“-Redakteur Sebastian Koch gehört zu den diesjährigen Preisträgern. Wir danken dem Axel-Springer-Verlag und Ferdinand von Schirach herzlich für die Zustimmung, den Text nachdrucken zu dürfen.
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