Studie - Deutschland profitiert von der Zuwanderung aus Osteuropa / Frühere Ängste haben sich als unbegründet erwiesen

ZEW-Studie: Deutschland profitiert von der Zuwanderung aus Osteuropa

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Walter Serif
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Auch in der Bauwirtschaft gibt es Fachkräfte-Engpässe, die von Zuwanderern aus Osteuropa gemildert werden. © dpa

Mannheim. Deutschland ist auf Beschäftigte aus den osteuropäischen EU-Staaten massiv angewiesen und profitiert stark von der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die im Zuge der EU-Erweiterungen 2004 und 2007 für mehr als 102 Millionen Bürgerinnen und Bürger in Kraft trat. Das ist das Ergebnis einer Studie des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Demnach zahlten 2020 rund 1,3 Millionen Beschäftigte in die Sozialkassen ein. Von 2000 bis 2010 lag der Anteil ausländischer sozialversicherungspflichtig Beschäftigter relativ konstant bei rund 6,5 Prozent, danach wuchs er an bis auf knapp 13 Prozent im Jahr 2020.

Minijobber-Anteil rückläufig

„Das Wachstum ist stark durch voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigte aus Osteuropa getrieben und nicht durch Minijobber. Sie zahlen also in die deutschen Sozialkassen ein und erwerben entsprechende Ansprüche“, sagt Mitautorin Katrin Sommerfeld. So sank der Anteil der geringfügig Beschäftigten in den vergangenen Jahren von knapp 25 auf unter zehn Prozent.

Die Zuwanderer aus Osteuropa entlasten auch den Arbeitsmarkt, weil sie im Vergleich zu den deutschen Beschäftigten eher in Berufsgruppen tätig sind, in denen Fachkräfte Mangelware sind. Die Studie zeigt, dass sechs der 15 Berufsgruppen, in denen Osteuropäer am häufigsten arbeiten, Fachkräfteengpässe aufweisen. Darunter fallen unter anderem Kranken- und Altenpflege, Metallbau oder Landwirtschaft.

Seit 2011 kamen im Durchschnitt pro Jahr rund 107 000 Personen aus den zehn Beitrittsländern Polen, Estland, Lettland, Litauen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Bulgarien und Rumänien. Die Zahl der zugewanderten Beschäftigten hat sich seither mehr als vervierfacht. Sie arbeiteten vor allem in der Post- und Lagerwirtschaft (170 000), Fahrzeugführung (107 000), im Straßenverkehr und in der Reinigung (102 000). Den größten Ausländeranteil osteuropäischer Beschäftigung gibt es in der Reinigung (36 Prozent), in der Lebensmittel- und Genussmittelherstellung (33) sowie im Hochbau (32). „Gerade solche Berufe sind durch niedrige Anforderungen an Sprachkenntnissen gekennzeichnet. Viele der Beschäftigten arbeiten zwar als Fachkräfte, aber unter ihrem Qualifikationsniveau“, sagt ZEW-Forscherin Katia Gallegos Torres.

Für die Zukunft sei es daher erforderlich, die Qualifikationen der Zuwanderer besser zu nutzen. „Deshalb sollten politische Anstrengungen darauf zielen, entsprechende Karrierewege zu eröffnen“, so Torres. Eine zügige Anerkennung ausländischer Qualifikationen und Berufserfahrung spielt demnach eine Schlüsselrolle. Jeweils knapp die Hälfte der Beschäftigten übt Helfertätigkeiten aus oder ist als Fachkraft in einem Arbeitsverhältnis.

Sommerfeld dämpft allerdings die Erwartungen an die Zuwanderung aus Osteuropa: „Insgesamt ist davon auszugehen, dass die bisherige Zuwanderung nicht ausreicht, um die bestehenden und für die Zukunft erwarteten Fachkräfte-Engpässe zu kompensieren.“ Unklar sei es außerdem, „ob weitere Migrantengruppen, wie die Asylzuwanderung oder der jüngste Zustrom ukrainischer Geflüchteter, einen Beitrag zur Beseitigung der Engpässe werden leisten können“.

Engpässe in der Pflege

Engpässe bestehen aufgrund der großen Nachfrage vor allem in der Kranken- und Altenpflege, bei den medizinischen Berufen, im Bau-und Handwerk sowie in der IT-Branche. Aktuell wird diskutiert, die Arbeitsbedingungen in der Altenpflege neu zu regeln, um verlässliche Rahmenbedingungen in bestimmten Beschäftigungsformen zu schaffen - vor allem in der 24-Stunden-Pflege. Die ZEW-Studie, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert wurde, bemängelt allerdings, dass es an einer Datenbasis fehlt, die als empirische Basis für Gesetzesänderungen notwendig wäre.

18 Jahre nach der ersten Erweiterungsrunde und elf Jahre nach Inkrafttreten der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit lässt sich feststellen, dass sich die damalige Befürchtung der Bundesregierung als falsch erwiesen hat. Politiker hatten die Sorge geäußert, dass die Osterweiterung zu steigender Arbeitslosigkeit und sinkenden Löhnen führen würde. Damals galt der deutsche Arbeitsmarkt im Nachgang der Wiedervereinigung noch als Schusslicht in der Europäischen Union. Niemand konnte zu jener Zeit ahnen, dass in den Jahren darauf ein „Arbeitsmarktwunder“ beginnen würde. Die auf Anraten der Hartz-Kommission umgesetzten Arbeitsmarkt-Reformen wirkten noch nicht.

Hans-Werner Sinn, früherer Präsident des Münchner ifo Instituts, prognostizierte mit Blick auf die EU-Erweiterung eine Netto-Zuwanderung von vier bis fünf Millionen innerhalb von zehn Jahren. Vor allem in den Grenzregionen war die Angst vor einem Pendlerzustrom groß. Vor diesem Hintergrund gewährte Deutschland den neuen EU-Bürgerinnen und -Bürgern die Arbeitnehmerfreizügigkeit erst 2011 beziehungsweise 2014. Die Beschränkungen galten für alle abhängig Beschäftigten. Ausgenommen waren Studierende, Selbstständige und Saisonarbeiter. Zuvor war eine Beschäftigung nur mit Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit möglich.

Redaktion Reporter für Politik und Wirtschaft

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