Mannheim. Die Digitalisierung hält in immer mehr Bereichen des Lebens Einzug, doch was im Schienengüterverkehr in Europa bevorsteht, ist nicht weniger als eine Revolution. Das seit mehr als 100 Jahren gängige Verfahren bei der Bildung von Güterzügen steht nämlich vor der Ablösung. Werden heutzutage die Waggons noch mit Schraubenkupplungen per Handarbeit miteinander verbunden, sind schon bald keine personalintensiven und vor allem kräftezehrenden Kupplungsvorgänge mehr notwendig. Es reicht, wenn eine Rangierlok die einzelnen Waggons zusammenschiebt. Den Rest erledigt die Digitale Automatische Kupplung (DAK).
Kuppeln ist Schwerstarbeit
Wer sich schon einmal mit einer Modelleisenbahn befasst und im Kleinformat einen Zug aus vielen Waggons zusammengestellt hat, könnte schnell auf den Gedanken kommen, dass der Vorgang in der Realität ähnlich einfach von der Hand geht. Während im Modell schon eine Berührung der beiden Waggons reicht, damit die Kupplung sie fest verbindet, bedeutet das Zusammenstellen eines Güterzuges in der Praxis Schwerstarbeit. Das zeigt ein Besuch auf dem Gelände des Mannheimer Rangierbahnhofs.
Viele Arbeitsschritte werden dort mit Rangierlokomotiven erledigt. Doch nachdem eine der Loks die einzelnen Waggons zu einem neuen Güterzug zusammengeschoben hat, muss ein Mensch ran, um sie miteinander zu verbinden. Dazu muss der Mitarbeiter zunächst zwischen zwei Waggons unter den Puffern hindurchkrabbeln, um an die Kupplung zu gelangen.
Rangierbahnhof: Gradmesser für die Konjunktur
- Der Mannheimer Rangierbahnhof ist nach Bahn-Angaben ein zentraler Knotenpunkt im Südwesten und der zweitgrößte Rangierbahnhof in Deutschland. Mit etwa 200 Hektar Fläche (mehr als sechs Kilometer lang und durchschnittlich 400 Meter breit) ist er ein wichtiger Umschlagplatz mit großen Volumina für die Logistik und die Industrie, besonders aus den Branchen Chemie, Automobil und Lebensmittel. „Es ist ein volatiles Geschäft“, sagt Standortleiter René Stadler, „wir merken schnell, wie es der Industrie geht“.
- Anders als im Lkw-Verkehr seien die Sicherheitsstandards europaweit zertifiziert. Ein Güterzug könne bis zu 52 Lkw-Fahrten ersetzen. Das Geschäft setze sich zusammen aus Großkundenaufträgen und dem – laut Bahn noch wichtigeren – Einzelwagenverkehr. Von Kundenseite immer stärker nachgefragt seien CO2-freie Transporte. Deshalb setzt die Bahn auf der letzten Meile nach eigenen Angaben HVO-Kraftstoffe etwa aus gebrauchtem Speiseöl ein. Etwa 3000 bis 4000 Wagen werden täglich in Mannheim behandelt und von ankommenden auf ausfahrende Züge verteilt. Etwa 60 Prozent des Verkehrs sind grenzüberschreitend, sieben bis acht Mal pro Tag steuern die Güterzüge von Mannheim aus das schweizerische Chiasso an.
Auf engem Raum hebt er dann einen rund 20 Kilogramm schweren Bügel auf den Haken des nächsten Wagens und spannt die Kupplung, indem er an einem Schraubgewinde dreht. Nachdem er den Bremsschlauch und den Luftschlauch für die Bremse angeschlossen hat, geht das gleiche Prozedere zwischen den nächsten beiden Wagen weiter. Zum Schluss läuft der Bahn-Mitarbeiter die bis zu 700 Meter langen Züge von beiden Seiten ab und inspiziert, ob alles seine Ordnung hat. Das Teilen der ankommenden Züge erfolgt in der umgekehrten Reihenfolge.
Verfahren ist seit 100 Jahren Standard
Das Verfahren ist seit mehr als 100 Jahren im Schienengüterverkehr in Europa Standard. Noch wird, nach Bahn-Angaben, etwa 54 000 Mal täglich bei der Güterverkehrssparte DB Cargo in Deutschland gekuppelt. Doch bald soll damit Schluss sein. Die Deutsche Bahn (DB) arbeitet innerhalb eines europäischen Konsortiums - unter anderem mit der schweizerischen und österreichischen Güterbahn - an der Digitalen Automatischen Kupplung (DAK), die diesen Arbeitsschritt überflüssig machen soll. Dann läuft der Kupplungsvorgang ähnlich einfach ab wie im Modell. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die Abläufe erheblich schneller und einfacher werden. Zudem werden Güterwaggons durch die DAK erstmals mit durchgehenden Strom- und Datenleitungen ausgerüstet sein.
Ein Testzug ist unterwegs
Weil das System europaweit eingeführt werden soll, muss es zum geplanten Start einwandfrei funktionieren. Umso wichtiger sind nun die Tests. Ein Testzug mit 19 Wagen ist deshalb seit eineinhalb Jahren unterwegs, zunächst in Deutschland, danach in Österreich und der Schweiz, bevor es in weitere EU-Länder geht. Damit sollen verschiedene Fahrsituationen erprobt werden, zum Beispiel stärkere Steigungen oder engere Kurven. Auch unterschiedliche klimatische Bedingungen, also extreme Hitze oder Kälte, müssen berücksichtigt werden. In Polen beispielsweise fährt der Testzug in der Nähe des Braunkohletagebaus, um die Bedingungen in staubhaltiger Luft und deren Auswirkungen auf die elektronischen Kontaktflächen zu testen.
Bei der Entwicklung und der Probe des neuen Systems kommt dem Mannheimer Rangierbahnhof eine besondere Bedeutung zu. Hier werden die digitalen Kupplungen zuerst getestet - und, wenn nötig, überarbeitet. Das erste Muster der DAK eines Herstellers ist hier eingebaut worden. „Das ist Pionierarbeit, um die Eisenbahn der Zukunft zu sichern“, sagt René Stadler, der Standortleiter von DB Cargo in Mannheim. Das sei in etwa so, „wenn wir den USB-Anschluss für die Eisenbahn erfinden“.
Mehr Kapazitäten und höhere Geschwindigkeiten
Nach Angaben der Bahn kann mit der DAK die Kapazität an Rangier- und Umschlagbahnhöfen um 40 Prozent steigen, unter anderem, weil Güterzüge länger und schwerer werden können. Ein weiterer Vorteil: „An viel mehr Stellen im Netz können wir schneller, mit Tempo 120, fahren und so besser im Personenverkehr, mitschwimmen‘“, so Stadler. Er betont, dass mit der digitalen Transformation keinesfalls ein Abbau von Arbeitsplätzen verbunden sei. Das Personal werde dann andere Aufgaben bekommen: „Berufsbilder werden sich verändern.“
Umrüstung muss schnell gehen
Weil nur die Kupplungen, nicht aber die Waggons ausgetauscht werden und diese weiterhin für die (stark wachsenden) Transporte benötigt werden, muss die Umrüstung gut vorbereitet werden und, wenn es dann soweit ist, schnell gehen. „Bei der Umrüstung der Wagen nutzen wir die Kapazitäten in unserer Instandhaltung, denken aber auch darüber nach, bei Bedarf auf Instandhaltungsfirmen aus der Region zurückgreifen“, erklärt Stadler. Es ist auch geplant, nahe bei den Kunden sogenannte Pop-up-Werkstätten zu errichten, damit ein Wagen nach wenigen Stunden wieder einsatzbereit ist.
Geplant ist, die DAK bis 2030 einzuführen. Etwa eine halbe Million Güterwagen, die in Europa unterwegs sind, müssen umgerüstet werden. Noch aus einem anderen Grund muss es zügig vorangehen: Bis 2030 soll der Anteil des Schienengüterverkehrs am Modal Split (Verteilung des Transportaufkommens auf verschiedene Verkehrsträger) von 18 auf 25 Prozent steigen.
Große Unterstützung für die Digitale Automatische Kupplung kommt aus der Politik. Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr finanziert das Forschungsprojekt mit 13 Millionen Euro.
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