Rassismus

Ilka Sobottke im "Wort zum Sonntag": Hinsehen

Von 
Ilka Sobottke
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Demonstranten stehen in Atlanta der Polizei gegenüber. Zuletzt wurde in der Stadt im Süden der USA ein schwarzer 27-Jähriger bei einer Polizeikontrolle von einem weißen Beamten erschossen. Nur wenige Wochen zuvor ist George Floyd ebenfalls bei einem Einsatz gestorben. Seitdem protestieren weltweit Demonstranten gegen Angriffe auf Menschen dunkler Hautfarbe. © Ben Gray/Atlanta Journal-Constitution/AP/dpa

Ich habe es kaum ertragen. Wollte wegsehen, einfach abschalten. Aber die Bilder waren überall: Ein Mann erstickt unter dem Knie eines Polizisten. Ich hab mich gefragt: Wie kann jemand acht Minuten und achtundvierzig Sekunden draufhalten und zusehen während ein Mann am Boden liegt, fleht: 'Ich kann nicht atmen, bitte!'  Wie kann einer zusehen wie der stirbt. Kann er nicht mehr tun? Ihn retten?

Dann habe ich herausgefunden: sie ist siebzehn. Sie heißt Darnella, eine Schülerin. Afroamerikanerin. Sie wollte nur einkaufen gehen, an der Hand die neunjährige Cousine. Da sieht sie den Policeofficer auf George Floyd knien. Das Handy rausziehen, draufhalten. Sie macht das. Obwohl sie weiß, schon das ist gefährlich. Der Policeofficer guckt das Mädchen direkt an. Guckt in die Handykamera. Ein Blick zwischen kalt und höhnisch. (Passanten bleiben stehen, rufen einen Krankenwagen. Auch sie flehen: 'Er bewegt sich nicht mehr'. Alle wissen: hier eingreifen, mit mehr als Worten, bedeutet den eigenen Tod riskieren.Darnella Frazier hat all das festgehalten. Sie hat es online gestellt. Alle können, alle müssen es sehen.

Diese Art hinzusehen ist ein Aufstand. Darnella Frazier ist zur Zeugin geworden. Sie ist dabei geblieben. Sie ist wie Maria, Jesu Mutter, und die anderen Frauen. Sie sehen hin auf Jesus am Kreuz, sie bleiben dabei. Es ist unerträglich. Sie hören Jesus, seine letzten Worte. Sie sehen, wie er zu Tode gefoltert wird. Ohne diese Frauen, was wäre unser Glaube?

Jesus von Nazareth – festgenommen, verurteilt, zu Tode gefoltert. George Floyd – festgenommen, zu Tode gefoltert. Darnella ist wie die Frauen unter Jesu Kreuz. Sie bezeugt den ungerechten Tod eines Mannes. Sie bezeugt die Ungerechtigkeit eines Systems. Frauen und Männer, ja sogar Kinder. People of Colour leiden täglich, sie sterben am Rassismus  der Weißen, die ihre Vorrechte nicht verlieren wollen. Zeugin sein – das heißt dem Unrecht ins Gesicht sehen. Das ist der erste Aufstand gegen das Unrecht.

Kann ich von Darnella Frazier lernen? Ich bin weiß. Viel älter, privilegiert. Umso wichtiger ist es: Den Blick nicht abwenden und bezeugen, wenn wieder etwas passiert. Trotz Angst vor Aggression.

Wir haben in Deutschland nicht das Ausmaß an Gewalt wie in den USA. Aber auch ich werde immer wieder Zeugin von Rassismus. Wenn in der Schule der Junge aus Ghana ausgelacht wird. Wenn People of Colour anders von der Polizei angesprochen werden als Weiße. Auch bei uns sterben People of Colour in Polizeigewalt. Menschen sterben an Ausgrenzung und Gewalt in Hanau, in Halle, durch Einzelne, durch Gruppen. Ich kann nicht dazwischen gehen, kann nicht kämpfen. Aber ich kann und ich will hinsehen, dokumentieren, den Mund aufmachen. Ich kann und ich will bezeugen, wenn jemand ausgegrenzt und angemacht wird. Ich will nicht hinnehmen, dass auch in unserem Land nicht alle gleich sind.

Ich will mich nicht abwenden. Ich will Zeugin sein.

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Ilka Sobottkes "Wort zum Sonntag": Hinsehen

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Zur Person: Ilka Sobottke



  • Ilka Sobottke spricht seit März 2019 im Wechsel mit anderen Pfarrerinnen und Pfarrern regelmäßig das „Wort zum Sonntag“ in der ARD.
  • Sie studierte in Heidelberg und Rom und ist seit 1999 Pfarrerin der Mannheimer City-Gemeinde Hafen-Konkordien.

 

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