Der katholische Pfarrer Ronald Givens nimmt in diesem Interview sehr deutlich Stellung zum Umgang von Bischöfen und Kardinälen mit dem Missbrauchsskandal. Von Martin Schulte
Pfarrer Ronald Givens hat sich jüngst in einer Predigt mit dem Verhalten der Obrigkeit der katholischen Kirche bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals auseinandergesetzt. Er fand überaus deutliche Worte. So auch in unserem Interview dazu. Der Zölibat kommt hier ebenfalls zur Sprache.
Herr Pfarrer Givens, haben Sie sich vor besagter Predigt schon einmal öffentlich zum Missbrauchsskandal geäußert?
Ronald Givens: Ja. Ich bin kirchenpolitisch eigentlich sehr zurückhaltend. Mir ist wichtig, dass die Menschen am Sonntag etwas für die Woche bekommen, was sie im Alltag stärkt. Aber wenn es aktuell geboten ist, dann äußere ich mich schon.
In dieser Predigt haben Sie überaus deutlich Stellung bezogen zum Missbrauchsskandal. Was hat Sie dazu bewogen?
Givens: Ich würde behaupten, dass es nicht deutlicher war, als ich sonst bin. Es ist nur mehr aufgefallen. Aber zu Ihrer Frage: Es gibt ein Buch mit dem Titel „Die Kirche verreckt an Ihrer eigenen Sprache“. Und je länger ich diese Verlautbarungen höre . . .
… welche Verlautbarungen?
Givens: Diese Erklärungen von Bischöfen, diese Entschuldigungen und diese Betroffenheit. Das ist alles so weltfremd und so formelhaft, dass es niemanden mehr erreicht. Ich glaube, die Kirche muss ganz neu zu sprechen lernen. Und zwar so, wie die Menschen sprechen.
Nur sprechen – oder nicht vielmehr handeln?
Givens: Logisch. Das Handeln ist noch viel wichtiger als das Sprechen.
Sie sagen in Ihrer Predigt, die Kirche könne Wahrheit nicht mehr von Lüge unterscheiden. Das ist starker Tobak für einen katholischen Priester. Haben sich schon Vorgesetzte bei Ihnen gemeldet?
Givens: (lacht) So wichtig bin ich nicht, dass die Vorgesetzten reagieren. Was Sie ansprechen, bezog sich darauf, dass Anwälte der Kirche sagen müssen, was wahr ist und was falsch ist.
Sie sprechen das Gutachten über die Diözese München- Freising an?
Givens: Ja. Und danach kam das Coming Out so vieler in der Kirche. Das ist doch genau das Gleiche. Wir haben eine zutiefst verlogene Struktur aufgebaut, in der immer wieder zuerst überlegt wird, was die Instanz oben drüber hören will. Und das führt dazu, dass wir nicht mehr wahrhaftig reden.
Und das entfernt die Menschen von der Kirche?
Givens: Vollkommen. Papst Franziskus hatte im Rahmen der Familiensynode in allen Gemeinden angefragt, was sie über die Ehe und die Familie denken. Und wir haben sehr viel darüber diskutiert. Da kam vieles von dem zur Sprache, was heute wirklich in einer Familie stattfindet. Wenn Sie nun schauen, was daraus geworden ist, dann verliert man jeglichen Mut, überhaupt noch irgendetwas nach oben zu sprechen. Weil es am Ende so in Formeln gepresst wird, dass es nichts mehr mit dem Leben zu tun hat.
Sie nennen mehrere Kardinäle namentlich und werfen ihnen – nach meinem Verständnis – vor, bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals versagt zu haben. Ist das richtig?
Givens: Ja. Das haben sie alle miteinander. Wenn man nach zehn Jahren noch eine Anwaltskanzlei braucht, die einem sagt, was man falsch gemacht hat, dann hat man versagt.
Sie zitieren in der Predigt Sophie Scholl mit den Worten „Das Gesetz ändert sich. Das Gewissen ändert sich nie“. Wo ist das Gewissen der Kirchenoberen? Haben sie keines?
Givens: Ich spreche keinem von ihnen ab, dass sie nach dem Gewissen handeln. Aber wenn ich mich nur noch in meinen Kreisen bewege, besteht die Gefahr, dass mein Gewissen korrumpiert wird. Wenn ich nicht mehr das Gespräch habe mit anderen außerhalb meiner Blase, dann verwechsle ich das, was ich höre, mit dem, was mein Herz mir sagen will. Ich bin überzeugt, dass es eine Herzkrankheit ist. Dass ganz viele Menschen im Laufe ihrer Karriere die ursprüngliche Herzensberufung zugunsten der Karriere zurückgedrängt haben. Und da ist die Kirche keine Ausnahme. Das ist erschreckend. Vielleicht wäre es ganz gut, dass jemand nur auf Zeit Bischof oder Erzbischof ist, und dann soll er wieder Pfarrer sein, um geerdet zu werden.
Sie schlagen in der Predigt eine gedankliche Brücke von gehorsamen und regeltreuen Kirchenoberen zu Menschen, die während des Nazi-Regimes Juden getötet und das gerechtfertigt haben. Wie ist dieser Vergleich zu verstehen?
Givens: Der hat sich ergeben, als ich die Dokumentation über die Wannsee-Konferenz angeschaut habe. Ich habe mich gefragt, ob ich in der damaligen Situation erkannt hätte, was Unrecht ist, oder ob ich auch mitgemacht hätte. Zu meinem eigenen Erschrecken müsste ich sagen, ich hätte ganz oft wahrscheinlich auch mitgemacht. Ich glaube nicht, so prophetisch begabt zu sein, dass ich es erkannt hätte. Und als ich dann in der Dokumentation gesehen habe, wie die Leute sich selber und ihr Weitermachen gerechtfertigt haben, da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: Das ist die gleiche Art der Argumentation wie in Kirchenkreisen.
Wie meinen Sie das?
Givens: Wenn ich die Grenze eines anderen Menschen überschreite, gerade in der Sexualität und gerade im Glauben, dann hat das eine dermaßen zerstörerische Kraft, dass die Opfer sich über Jahre hinweg wie tot fühlen. Das ergibt sich aus den Schilderungen von Opfern. Sie haben keinen Zugang mehr zu ihrer ursprünglichen Lebendigkeit.
Was macht die Ohnmacht in dieser großen Krise mit Ihnen persönlich?
Givens: Ich unterscheide mich da nicht von allen anderen, die sich irgendwo in der Kirche engagieren. Es ist eine Hilflosigkeit. Eine absolute Hilflosigkeit. Man muss aufpassen, sich nicht in eine Innerlichkeit zu flüchten.
Sind Sie manchmal auch verzweifelt?
Givens: Ja. Ich bekomme jeden Monat mappenweise Austritte aus der Kirche. Jetzt arbeiten Sie intensiv zusammen mit engagierten Ehrenamtlichen, und vieles wird wirklich gut gemacht – und Sie bekommen das nicht mehr transportiert. Sie unterschreiben nur noch Briefe an Leute, die ausgetreten sind. Und Sie wissen, der Brief wird diesen abgerissenen Kommunikationsfaden nicht mehr knüpfen. Diese Menschen sagen mir: „Mit Deiner Kirche, mit dem, was Dir wichtig ist, möchte ich nichts mehr zu tun haben.“
Sind Sie auf diese Predigt angesprochen worden?
Givens: Ja. Überwiegend haben sich die Menschen dafür bedankt, dass ich es nicht verschwiegen, sondern ihnen aus der Seele gesprochen habe. Es gab auch andere Stimmen. Aber sie sind es nicht wert, ihnen Raum zu geben.
Ist der Zölibat eine Ursache des Missbrauchs?
Givens: Wenn Sie mich vor zehn Jahren gefragt hätten, hätte ich Ihnen klar erklärt, warum der Zölibat wichtig ist. Heute sage ich: Es gibt wirklich überhaupt keinen Grund mehr, an einem Pflichtzölibat festzuhalten, selbst wenn es nur ein einziges Missbrauchsopfer gäbe.
Wie ist das zu verstehen?
Givens: Selbst wenn wir nicht über Tausende von Missbrauchsopfern sprechen würden, sondern wenn wir nur von einem einzigen Kind sprächen, dann muss das ausreichen, dass eine Kirche sagt, diese Pflicht darf es nicht mehr geben. Jesus sagt, „wehe dem, wer einen von diesen Kleinen verführt, für ihn wäre es besser, mit einem Mühlstein ins Meer geworfen zu werden“. Wenn das wahr ist, dann kann ich nicht sagen, der Zölibat ist wichtiger als dieses Kind. Und ich bin fest davon überzeugt, dass der Pflichtzölibat nicht nur zu dieser verklemmten Sexualität geführt hat. Dazu gehört auch die ganze Heimlichkeit. Dazu gehört, dass man nicht offen sagen kann, ob man hetero- oder homosexuell ist. Die Gläubigen trauen der Kirche in Sachen Sexualität gar nichts mehr zu. Über Jahre hinweg haben Männer ein heimliches Doppelleben geführt, und Kirchenobere haben diese Doppelleben gedeckt. Von solchen Männern lassen sich Gläubige nicht mehr sagen, wie sie ihre Sexualität leben sollen.
Haben Sie eine Botschaft an die Bischöfe?
Givens: Ich würde mir wünschen, dass sie fünf Jahre lang mal nichts mehr zum Thema Sexualität sagen. Ich bin überzeugt: Der liebe Gott interessiert sich lange nicht so für das Schlafzimmer, wie es katholische Geistliche tun. Er interessiert sich nur dafür, ob das, was wir mit unserer Sexualität tun, einen wehrlosen Menschen, egal ob klein oder groß, ob Mann oder Frau, beschädigt. Alles andere gehört zur Freude der Schöpfung.
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