Mannheim. Er ist erst 23 Jahre alt, wollte studieren, sich eine berufliche Zukunft aufbauen. Nun wird er mit Handschließen in den Gerichtssaal geführt. Totschlag wirft die Staatsanwaltschaft dem jungen Mann vor. Es ist der dritte Prozesstag und der Angeklagte sieht zunehmend mitgenommener aus.
Bisher hatte er zu den Vorwürfen geschwiegen. Im April soll er im Trinkgelage mit Freunden seinen 28-jährigen Kumpel stranguliert und getötet haben. Ein Dritter, der dabei war, filmte Szenen der Tat. Ihm, einem 30 Jahre alten gelernten Landschaftsgärtner, wirft die Staatsanwaltschaft unterlassene Hilfeleistung, Unterschlagung und Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen vor. Doch weil sein Anwalt erkrankt ist, wurde das Verfahren gegen ihn jetzt abgetrennt. Fortsetzung im Januar.
Der 23-Jährige sitzt nun alleine mit seinen Verteidigern auf der Anklageseite - und jetzt möchte er plötzlich doch reden und sagen, dass es ihm „unheimlich leidtut“. Er zählt auf, wie viel er an dem Abend getrunken hat, wie es schon Stunden vor der Tat mit Wodka losging, wie der Pfefferminzschnaps dazukam und sie dann zum späteren Opfer fuhren, um dort auf der Rheinau im Keller weiter zu bechern. Daran könne er sich noch erinnern, „dass wir geraucht haben, getrunken haben und Musik gehört haben.“ Er wisse auch noch, dass er sich plötzlich unwohl fühlte und eigentlich nach Hause wollte. An den Streit könne er sich nicht mehr erinnern, er wisse auch nicht mehr, wie es zu dem körperlichen Konflikt kam, was genau passierte und wie es endete. „Ich kann mir nur vorstellen, dass ich Angst hatte, wieder verletzt zu werden, und überreagiert habe“, sagt er, mittlerweile kreidebleich. Ein paar Tage vor der Tat sei schon einmal ein Saufgelage eskaliert, damals sei er mit einer Flasche attackiert worden. Während der Angeklagte spricht, schaut er auf seine Hände, er formt sie, als wolle er einen Ball festhalten. „Ich hab’ versucht, ihn zu fixieren. Ich hatte Panik“, sagt er und lässt die Hände sinken. Bis zum nächsten Satz muss er mehrmals durchatmen: „Ich hatte nie die Absicht, ihn zu töten“, betont er dann, „es tut mir unendlich leid.“ Die Verteidiger sagen, die Erklärung sei abschließend, heißt: keine weiteren Fragen. Ab jetzt schweigt der Angeklagte wieder.
Joachim Schramm, der psychiatrische Sachverständige, hat mehr zu erzählen. Er habe in der JVA viele Stunden mit dem Angeklagten verbracht. Vor Gericht gibt er das Bild wieder, dass er sich von dem 23-Jährigen machen konnte: „Gute Noten, sozial eingebunden, Auslandsjahr, sehr gutes Abitur“ - bis dahin lief’s. Doch dann „zeigte er wenig Stringenz bei der Verfolgung von Zielen“, so drückt es der Mediziner aus.
Im Vergleich mit zielstrebigen Gleichaltrigen habe das zu einem „nachlassenden Selbstwertgefühl“ geführt, und der Angeklagte habe eine zunehmende Passivität entwickelt. Eine „grundlegende, anhaltende Verstimmung“ sei die Folge gewesen, die habe er „mit Alkohol betäubt“, sagt Schramm: „Er ist jemand, der seit Jahren zu viel trinkt, und der immer wieder Eskalationen in dem Zusammenhang erlebt hat.“
Er bescheinigt dem 23-Jährigen eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit in der Tatnacht, was sich strafmildernd auswirken kann. Einen Blutalkoholwert von mehr als zwei Promille soll er damals gehabt haben. „Er war nicht wahnhaft, nicht psychotisch, sondern schlicht betrunken.“ Es bestehe die große Befürchtung, wenn sich ihm die Gelegenheit böte, könnte es wieder gefährlich werden für andere.
Aber es gibt Hoffnung: „Er ist jemand, der aus einem gut bürgerlichen Kontext kommt und unter therapeutischer Begleitung Perspektiven entwickeln könnte.“ Der Vorsitzende Richter Gerd Rackwitz möchte wissen, ob dem Fachmann die in der Erklärung beschriebenen Gedächtnislücken des Angeklagten zur Tatnacht plausibel erscheinen. „Man würde denken, dass er etwas mehr sagen könnte“, meint Schramm: „Das heißt aber nicht, dass er uns erklären könnte, warum er es getan hat. Das waren wahrscheinlich ganz banale Gründe.“
Ernüchternd. Für die Eltern des getöteten 28 Jahre alten Mannes bleibt damit die Frage nach dem Warum unbeantwortet. Sie treten im Prozess als Nebenkläger auf, sind aber bisher nicht zu den Verhandlungen erschienen. Sie verzichten auf Schmerzensgeld, bestätigt Nebenklage-Anwältin Sabrina Hausen. Alles, was sie wissen wollten, war, wie es zu der Tat kommen konnte. Sie werden es nie erfahren.
Am Nachmittag schließt Richter Rackwitz die Beweisaufnahme. Erster Staatsanwalt Lars-Torben Olt-rogge hat das Wort. Er geht in seinem Plädoyer davon aus, dass der Angeklagte den Tod seines Kumpels in Kauf nahm und trotz erheblicher Alkoholisierung wusste, wie der Angriff enden würde. Neuneinhalb Jahre Haft hält Oltrogge für tatangemessen, eine Strafmilderung durch die verminderte Steuerungsfähigkeit eingeschlossen. Außerdem regt er die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. „Er hat den Hang, im Übermaß zu trinken. Darauf ist die Tat zurückzuführen und es könnten weitere solche Eskalationen folgen“, mahnt Oltrogge an.
Opferanwältin Hausen nimmt in ihrem Schlusswort Bezug auf das Video: „Der Geschädigte hat den Angeklagten mehrmals gebeten, aufzuhören, er röchelte, sagte, dass er keine Luft mehr bekommt. Der Angeklagte hätte einfach loslassen und wegrennen können“, sagt sie und schließt sich dem Antrag der Staatsanwaltschaft an. „Für die Familie des Getöteten gibt es keine gerechte Strafe“, fügt sie hinzu. Am 22. Dezember plädieren die Verteidiger, danach soll das Urteil fallen.
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