Mannheim. Situationen, die angehende Hebammen bei Geburten miterlebt haben, haben zuletzt Forscher der FH Salzburg in einer Studie untersucht. Rund 70 Prozent gaben an, dass es im Kreißsaal zu „Abwertung“ der Gebärenden durch anwesendes Personal gekommen ist. Ob durch ärztliche Kollegen oder Hebammen selbst. „Anschreien“ der gebärenden Frau schilderten etwa 50 Prozent.
Von sexuellen Übergriffen auf diese berichteten sieben Prozent. Auch Treten, Schlagen, Schubsen oder Spucken war aufgelistet, mit einstelligen Prozentzahlen. Mehr als 600 Personen, die regelmäßig in Kreißsälen anwesend sind, wurden befragt.
„Viele Frauen erleben in geburtshilflichen Einrichtungen auf der ganzen Welt einen geringschätzigen und missbräuchlichen Umgang.“ Das hat bereits 2014 die WHO festgehalten. Sie rief zu „Dialog, Forschung und Fürsprache“ im Hinblick auf „dieses gravierende Problem der öffentlichen Gesundheit und der Menschenrechte“ auf.
Boris Weirauch hakt nach
Getan hat sich seither wenig. Besonders beim Erfassen dieser speziellen Gewaltform, die in ihren Erscheinungsformen fließend ist. Von körperlicher bis hin zu subtiler verbaler Gewalt ist alles dabei. Das macht es auch Betroffenen schwer, sie zu erkennen. Und auch in den Institutionen wird nicht wirklich statistisch erfasst.
Denn eine Anfrage des Mannheimer SPD-Landtagsabgeordneten Boris Weirauch und seiner Tübinger Fraktionskollegin Dorothea Kliche-Behnke an die Landesregierung ergab kürzlich, dass „keine Berichte zu Gewalterfahrungen im Kontext der Geburt bekannt sind.“ Weder „systematische Erfassungen noch Einzelfallberichte“. Das gehe aus einer Anfrage bei der Geschäftsstelle der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft hervor, so die grün-schwarze Landesregierung in ihrer Antwort.
Anonymisierte Erfahrungsberichte bis 10. Juli einreichen
- Viele Frauen erleben eine gute Geburt. Aber nicht alle. Manche erleben dabei sogar Gewalt. Gehören Sie zu letzterer Gruppe? Dann können Sie sich bei einem Verein melden. Gesucht werden Berichte von Gebärenden, auch von Begleitpersonen und geburtshilflichem Personal in Baden-Württemberg.
- Ein Erfahrungsbericht, Länge möglichst etwa ein Din A4-Blatt, soll bis 10. Juli per E-Mail an info@mother-hood.de geschickt werden. Der Text kann auch in die E-Mail hineinkopiet werden. Alle Angaben werden vertraulich behandelt, so der Verein. Wichtig: Betroffene sollen dazu schreiben, dass der Verein den Bericht anonym weitergeben darf.
- Was passiert mit dem Bericht? Mother Hood sammelt alle Erfahrungsberichte und wird sie an die Krankenhausgesellschaft Baden-Württemberg und das Gesundheitsministerium Baden-Württemberg übermitteln.
- Erster Schritt seien Erfahrungsberichte, zweiter Schritt, „das Ministerium auf ihre rechtliche Verpflichtung zum Gewaltschutz hinzuweisen, so wie es die Istanbul Konvention vorschreibt, die Deutschland unterzeichnet hat“.
Dabei sind die Einzelfallberichte mitunter drastisch, wie nicht nur aus zahlreichen Berichten im Netz, sondern ebenso aus der eingangs genannten Erhebung der FH Salzburg hervorgeht. „Schnitt in die Bauchdecke bei Bewusstsein der Gebärenden, bevor Narkose wirkte“, „Dammschnitte und Fruchtblasenaufstechen ohne Erklärung oder Einwilligung“ wurde in den Interviews genannt.
Auch „vaginale Untersuchungen unter Vollnarkose zum Üben ohne Wissen der betroffenen Frau“ und „Festhalten oder Fixieren“, „Auslachen“, „Ausnutzen von Macht“ sind nur einige der Antworten.
Anerkennung als Gewaltform
Die Frauenorganisation Mother Hood weiß um diese Problematik. Und setzt sich für eine bessere Geburtshilfe ein. Auch in Baden-Württemberg. Die hiesige Landesgruppe will als Reaktion auf die SPD-Anfrage Erfahrungsberichte von Betroffenen sammeln und diese anonymisiert an die Landesregierung weitergeben. Dazu ruft sie zum Mitmachen auf (siehe Infobox). Mother Hood hat die Antwort auf die Kleine Anfrage der Parlamentarier auch zum Anlass genommen, die Landesregierung aufzufordern, unter anderem Gewalt bei der Geburt als eine Gewaltform anzuerkennen.
Zudem fordert sie, Hilfsdienste zu verbessern, sowie den sensiblen und gewaltfreien Umgang mit Schwangeren und Gebärenden im Medizinstudium zu verankern. Vor allem fordert der Verein: Schaffung einer Koordinierungsstelle sowie Sammlung und Auswertung von Daten zu Gewalt in der Geburtshilfe.
Sprecher: Zustimmung als Maxime
Wie es an Mannheimer Kliniken zu dem Thema aussieht, hatte der „MM“ bereits in einer Serie zum Thema Gewalt beleuchtet. „An der UMM wurden in den vergangenen Jahren keine Beschwerden über Vorfälle zu Gewalt in der Geburtshilfe vorgebracht“, so Sprecher Dirk Schuhmann. „Daher gibt es keine entsprechende Datensammlung.“ Er betont: „Die Wünsche der werdenden Mütter haben bei der Geburt am Universitätsklinikum Mannheim höchste Priorität.“ Soweit gewünscht und medizinisch vertretbar, sei es das Ziel des Kreißsaalteams, den Eltern ein natürliches Geburtserlebnis zu ermöglichen.
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„Oberste Maxime ist, dass alle Maßnahmen während der Geburt nur mit der vorherigen Zustimmung der Gebärenden stattfinden können. Daher erläutern die Ärzte und Hebammen die medizinisch notwendigen Maßnahmen ausführlich und holen das Einverständnis der Gebärenden ein.“ Die Gebärende könne „jederzeit darauf hinwirken, von einer anderen Person betreut zu werden, wenn sie mit der Betreuung einmal nicht zufrieden sein sollte“, sagt Schuhmann.
Als Anlaufstelle für Beschwerden nach der Geburt stehe neben dem Personal und dem Direktor der Frauenklinik auch das Büro für Patientenzufriedenheit zur Verfügung, „das als neutraler Vermittler zwischen Patienten und der Klinik auftritt“, so Schuhmann.
Klinik: Erfahrungen rückmelden
Das Diako sagte auf Anfrage: „Das Diako ist ein überschaubares Haus, in der jeder und jede Einzelne gesehen wird. Gewalt - physischer oder psychischer Natur - ist für uns ein ,No-Go’.“ Die Zeit der Entbindung sei eine „hochsensible Zeit, in der die Frauen sehr verletzlich“ sind. „Das wissen alle, die bei uns im Kreißsaal und auf der Entbindungsstation arbeiten.“
Über das Beschwerdemanagement des Hauses würden Themen gesammelt und ausgewertet. 2020 habe das Diako die Kritik einer Frau erreicht, „die sich unter der Geburt nicht gut behandelt fühlte. Hier war ganz klar eine schlechte Kommunikation über (u.a. Corona) - Maßnahmen der Hintergrund.“ Man sei froh, dass sie sich meldete: „So konnte das gut nachbesprochen werden. Wir wollen in Zukunft die Frauen noch stärker ermutigen, uns ihre Erfahrungen zurückzumelden.“
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