Mannheim. Autolärm. Gehupe. Abgasgestank. Der Blinden- und Sehbehindertenverein (BBSV) hat zur Kreuzungsaktion geladen. Er will Gefahrenstellen in der Stadt zeigen. Etwa Ampeln, die nicht barrierefrei sind. Das sind, wie schnell vor Ort deutlich wird, viele. „Ich gehe hin, strecke den Stock raus und bete, dass mich kein Auto erwischt“, beschreibt etwa Josef seinen täglichen Moment an Ampeln ohne Signal. Er resümiert: „Ich hoffe einfach immer, dass mich keiner mitreißt.“
Die Gruppe steht auf Höhe des Sanitätshauses Mayer & Rexing am Kaiserring. Gaby Weiland von der Beratung Blickpunkt Auge sagt: „Also hier diese Ampel. Ich sehe nichts. Kein Lichtzeichen. Eventuell einen kleinen Umriss, je nach Sonnenstand.“ „Die Ampel hier ist auch für mich überhaupt nicht zu sehen, ich bräuchte einfach nur eine Rille auf dem Boden oder Ähnliches, das sie markiert“, sagt derweil Josef. Weiland nickt.
BBSV Mannheim auf Tour in der Innenstadt: „Ich liebe Motorräder und Lkw, die sind so schön laut“
Auch Bürgermeister Thorsten Riehle besucht den Termin. Er will sich ein Bild der Lage machen. Er fragt Weiland: „Darf ich Sie fragen, wie viel Sie jetzt noch sehen?“ Weiland sagt: „Auf dem einen Auge 20 Prozent, auf dem anderen ist es nicht mehr messbar. Wenn die Sonne scheint, ist es, als hätten Sie dauerhaft ein Prisma auf“, beschreibt sie. „Sonst ist es so, als ob es verschneit ist oder voller Nebel.“
Auch Wolfgang Just sagt: „Sie können sich das so vorstellen, wie wenn Sie aus einem dunklen Tunnel rausfahren und dann ins Helle blicken. Dieser Moment - so ist es bei uns dauerhaft.“ Weiland ergänzt: „Während sich andere über die Sonne freuen, geht bei uns dann halt das Prisma los.“
Währenddessen tappt Riehle, der eine Blinden-Simulationsbrille aufzieht, unbeholfen zur Ampel - und verpasst dabei gleich das viel zu leise akustische Signal. Schließlich schafft er es dann mit Hilfe der Anwesenden doch über die Straße.
Ein muskulöser Mann mit Kappe nähert sich der Gruppe. Er ist kein Passant, sondern will gezielt zur Aktion. Und er ist kein gewöhnlicher Mannheimer. Es ist Oliver Upmann, Vierter bei den Paralympischen Spielen in Tokio, EM-Bronze-Gewinner. Das sind nur einige seiner Karrieremeilensteine als Para-Judoka.
„Das Problem liegt darin, dass kein Ansatz vorhanden ist, kostenneutral barrierefreie Infrastruktur nachzurüsten oder zu erschaffen“, erklärt Upmann ruhig. „Barrierefreiheit ist in der Stadt und in Deutschland stellenweise mal da, dann mal wieder gar nicht vorhanden oder oft mangelhaft. Und unsere aktuelle gesellschaftliche Situation mit Teilhabegesetz und Co. steht leider oft im Gegensatz zum Budget, um Dinge zu verändern und Barrierefreiheit baulich umzusetzen.“
Upmann findet: „Es muss investiert werden, man muss das Thema diskutieren, und diese moralische Frage dürfte eigentlich in Deutschland gar nicht finanziell bewertbar sein!“, so der Athlet.
Auch er kennt viele Stellen mit Handlungsbedarf in Mannheim: „Abgenutzte und nicht mehr spürbare Blindenrillen im Boden am Paradeplatz, oder Ampeln, bei denen erst ein Signal kommt, wenn man den Knopf drückt, das ist wirklich sinnbefreit“, so Upmann.
Wolfgang Just ergänzt lachend: „Und ich kenne auf meinen Routen jedes Schlagloch persönlich.“ Der neue Belag in der Fußgängerzone sei bei Sonnenschein übrigens „schlimm, alles glitzert und blendet, man erkennt nichts mehr“, sind die Anwesenden sich einig. Gaby Weiland sagt: „Und immer mehr Leute in unserer Gesellschaft und in unserer Stadt werden statistisch gesehen blind oder sehbehindert.“ Ein „Riesenthema“ für immer mehr Menschen.
Wolfgang Just sagt: „Ich sag’ immer, ich liebe Motorräder und Lkw, die sind so schön laut. E-Autos höre ich nicht.“ Josef sagt: „Ich gehe im Übrigen, wenn ich in die Innenstadt gehe, fast nur noch mit meiner Frau raus.“ Passanten würden sehr viel helfen im öffentlichen Raum, sagt er. „Sie leiten einen etwa über die Straße. Aber: Man muss sich auch anfassen lassen wollen. Nicht jeder mag das. . .“
Viele Problemstellen für blinde Menschen in Mannheimer Stadtteilen
Indes benennt Weiland auch viele Problemstellen in den Stadtteilen: „Der Rheingoldplatz Neckarau wurde neu gemacht, da am Denn’s. Ja und im Endeffekt gibt’s jetzt gar keine Markierungen für blinde Menschen. Es ist einfach gefährlich dort für uns.“ Oder auf der Schönau, ergänzt Just, „die Audio-Anlage an der Ampel am Kindergarten wird dann halt einfach abends ausgeschaltet.“ Warum wird sie ausgeschaltet? „Weiß ich nicht“, sagt Just und schüttelt den Kopf.
Mannheims problematische Kreuzungen für blinde Menschen
Exemplarisch aufgelistete Straßenkreuzungen in Mannheim, die von den BBSV-Mitgliedern benannt wurden. Sie stellten "in ihrem Alltag ein unüberwindbares, teilweise lebensgefährliches Hindernis dar und beeinträchtigt sie deshalb in ihrer Mobilität und in ihrer Teilhabe am alltäglichen Leben", so der BBSV.
- Mannheim-Innenstadt: Straßenquerung Tattersall - Kaiserring hin zu den Quadraten
- Mannheim-Feudenheim: Straßenquerung Am Aubuckel - Wingertsbuckel - Völklinger Straße - Abgang zur Feudenheimer Au und zum Feudenheimer See
- Mannheim-Käfertal: Straßenquerung Waldstraße/ Ecke Lampertheimerstraße
- Mannheim-Neckarau: Straßenquerung rund um den Rheingoldplatz
- Marktplatz Neckarau: Überquerung von der Haltestelle Marktplatz über Friedrichstraße, Rheingoldstraße,
- Mannheim-Rheinau Süd/ Hafen: Straßenquerung an der Bushaltestelle Münchwälderstraße über die Rhenaniastraße/ Ecke Edinger Ried Weg zum Hafen 1
- Mannheim-Rheinau Süd: Straßenquerung über B 36, Abzweigung zum Real, Abzweigung zum McDonalds, Überquerung der B36 zur Bushaltestelle Luftschiffring
- Mannheim-Innenstadt: Straßenquerung der Kreuzung beim Nationaltheater/ Goethestraße/ Berliner Straße
- Mannheim-Innenstadt: Straßenquerung von der Innenstadt zur Kurpfalzbrücke
- Mannheim-Innenstadt: Straßenquerung Bismarckstraße von L 1 Richtung Schloss
- Mannheim-Innenstadt: Querung Friedrichsring Richtung Wasserturm vom Plankenkopf
- Mannhiem-Innenstadt: Straßenquerung Augustaanlage - Werderstrasse
- Schwetzinger Vorstadt: Straßenquerung Schwetzingerstraße - Traitteurstraße
- Mannheim-Lindenhof: Straßenquerung John-Deere-Straße, Richtung Lindenhof
- Mannheim-Feudenheim: Straßenquerungen Aubuckel zur Ziethenstrasse und zum Adolf Damaschke Ring
- Mannheim-Vogelstang: Straßenquerungen Magdeburger Straße zu MC Donalds
- Mannheim-Innenstadt: Staßenquerung Reichskanzler Müller Straße - Heinrich Lanzstraße
- Mannheim-Innenstadt: Straßenquerung Augustaanlage – Wilhelm-Varnhold-Allee - Schubertstraße
- Mannheim-Neckarau: Straßenquerung Neckarauerstraße – Friedrichstrasse
Ist eigentlich etwas dran, an dem, was viele sagen, dass andere Sinne von blinden Menschen besser sind als bei Nicht-Blinden? „Ich bin vor eineinhalb Jahren erblindet, ich nehme schon mehr wahr etwa durch Nase oder Ohren. Das kommt mit der Zeit“, sagt Josef. Elisabeth Nowotny aber sagt: „Ich bin schon etwas älter, und da geht das leider nicht mehr so einfach“. Auch ihr ist die Ampel mit Signal keine Hilfe: Vor lauter Verkehrslärm hört sie das Piepen nicht. „Ich bin jetzt 86, und will auch noch am Leben teilhaben“, sagt sie. Für sie wäre ein lauteres Geräusch wichtig.
Einen wichtigen Hund für 55 000 Euro im Schlepptau
Gaby Weiland sagt: „Wissen Sie, es geht hier wirklich um Teilhabe. Wenn die Leute schlechte Bedingungen vorfinden, beginnt ein Teufelskreis. Gerade für Ältere. Sie gehen nicht mehr raus, Stichwort Vereinsamung. . .“ Doch um draußen sicher zu sein, muss Geld in die Hand genommen werden. Oder es braucht einen tierischen Begleiter: Snezana Kljaic hat für einen Blindenhund „schlappe“ 55 000 Euro gezahlt.
Er hat eine teure Ausbildung hinter sich. Aber die Versicherung übernahm im Endeffekt die Kosten, erzählt sie. Am Stand des BBSV können sich Passanten derweil Simulationsbrillen ausleihen. Joana Gräf zieht eine auf. Sie wirkt aufgeregt. „Ich hab keine Ahnung von diesen Sachen. Aber ich helfe immer“, sagt sie, merklich schockiert vom eingeschränkten Sichtfeld. „Deshalb helfe ich immer. Was kann ich noch machen?“ Elfi Meyer vom Team beruhigt sie später, sagt: „Behalten Sie sich Ihre Hilfsbereitschaft bei, egal, ob bei behinderten oder nicht behinderten Menschen.“
BBSV: Geld für Blindengerechte Stadt einplanen
Karlheinz Schneider vom BBSV weist erneut auf die Dringlichkeit der Aktion hin und nennt weitere riskante Stellen in Stadtteilen: „Von der Neckarauer Straße bis zum Bahnhof Neckarau ist so wenig blindengerecht. Dabei sind da eine Menge Geschäfte, die erreicht werden müssen. Auch in den Quadraten vom Schloss bis zum K-Quadrat sieht es mau aus. Aber an der Bismarckstraße haben wir gute Fortschritte erreicht.“ Der BBSV wünscht sich eine neue Übersicht mit barrierefreien Ampeln.
Karlheinz Schneider, die beiden BBSV-Gschäftsführer Helge Opitz und Klaus G. Wolff und die Betroffenen sind sich einig. Man müsste einfach einmal einen Geldbetrag dafür im Haushalt einplanen, besonders für die akustische Grundausstattung. Der BBSV hat eine Liste mit allen Gefahrenkreuzungen erstellt. Sie ist lang. Riehle empfiehlt, diese nun zu priorisieren und dies zu kommunizieren. Und er sieht auch einen guten Zeitpunkt, sich damit vor den Haushaltsberatungen an die Fraktionen zu wenden.
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