Tiefes Trauma

Martin Debes ist der Meinung, dass der bloße Blick auf die Wirtschaft die Proteste im Osten nicht erklärt

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Martin Debes
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Jeden Montag demonstrieren Zehntausende in Ostdeutschland. Sie tragen die Fahne Russlands oder Flaggen offenkundig rechtsextremer Vereine wie „Freies Sachsen“. Und sie fordern in immer radikalerem Ton, dass sich die Politik ändern müsse – und zwar grundsätzlich. Sie stellen die Systemfrage.

Nachdem in den vergangenen beiden Jahren der Widerstand gegen die Corona-Schutzmaßnahmen die Proteste bestimmt hat, wird nun Partei für die russischen Invasoren ergriffen. Dabei findet die klassische Täter-Opfer-Umkehr statt: Die durch die Nato verhetzte ukrainische Regierung trage selbst die Schuld daran, dass ihr Land überfallen wurde. Deshalb gehe uns der Krieg auch nichts an.

Wie schon 2015 bei der Flüchtlingskrise und während der Pandemie profitiert die AfD von der zunehmend aggressiveren Atmosphäre. In den Umfragen ist sie die stärkste Kraft in Ostdeutschland. Dass in diesem und nächsten Jahr keine Wahlen im Osten anstehen, lässt Berlin noch einigermaßen entspannt auf den fatalen Trend blicken. Wer weiß in diesen Zeiten schließlich schon, was 2024 sein wird?

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Dabei ist die Prognose einfach: Die Stimmung wird sich nicht in Wohlgefallen auflösen. Selbst wenn Krieg und Inflation enden sollten, wonach es nicht aussieht: Die nächste Krise kommt – einschließlich einer östlich dominierten Protestwelle.

Die Gründe werden seit Jahren debattiert. Aktuell heißt es, dass die ostdeutsche Wirtschaft aufgrund ihrer Vernetzung mit dem russischen Markt und den dortigen Energiequellen stärker leide. Zudem besäßen die Menschen weniger Finanzreserven, was die Existenzangst steigere.

Aber bei näherer Betrachtung relativieren sich diese Annahmen stark. Es ist, so wie eigentlich immer im Osten, deutlich komplexer. Weder die Schablone der „Diktatursozialisierung“ noch die in vielen Langzeitstudien gemessene „Demokratieskepsis“ einschließlich rassistischer, nationalistischer und autoritärer Neigungen reicht als Erklärung aus. Beides führt, für sich genommen, sogar in die Irre.

Was viele westdeutsch geprägte Menschen nicht verstehen, ist die Widersprüchlichkeit dessen, was Soziologen als „Transformation“ bezeichnen – deren Ergebnis eine erhöhte Verwundbarkeit mit teils traumatische Zügen ist.

Da war auf der einer Seite das doppelte Glückserlebnis von friedlicher Revolution und deutscher Einheit, das Millionen Menschen Freiheit und Wohlstand brachte. Und da waren die Milliarden D-Mark und Euro, mit denen die Städte schön und die Flüsse sauber wurden. Auf der anderen Seite aber stand eine lange Phase der Deindustrialisierung, der Massenarbeitslosigkeit und der Abwanderung. Das alles traf nicht alle Menschen im Osten, aber es vernichtete Eigentum und zerstörte viele Lebensläufe. Das hallt bis heute nach.

Die Bundespolitik reagierte mehrheitlich mit Unverständnis bis Ignoranz, um dann, als die PDS stärker wurde, mit noch mehr Geld zu reagieren. Ein ähnlicher Mechanismus ist jetzt im Umgang mit der AfD zu beobachten – wobei es neuerdings heißt, dass „die Lebensleistungen der Ostdeutschen“ mehr zu würdigen seien.

Doch auch dies ist bloß eine neue Variante des Paternalismus, auf den Ostdeutsche sehr sensibel reagieren. Die Kontinuität von der DDR zu heute ist, dass sich eine große Minderheit im Osten als Deutsche zweiter Klasse fühlt – und dass sie dem Staat zutiefst misstraut.

Das alles lässt sich nicht mal eben ändern oder gar einfach auswarten. Ein Anfang wäre vielmehr, die Wirklichkeit in ihrer ganzen Kompliziertheit zur Kenntnis zu nehmen.

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