Kommentar Putins Schweigen ist typisch

Inna Hartwich wirft Kremlchef Putin vor, lieber Jagd auf Andersdenkende zu machen, anstatt sein Volk vor den wirklichen Bedrohungen zu schützen. Ein Kommentar

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Inna Hartwich
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Ewig lange 19 Stunden hatte es gedauert, bis der Mann, den vor einer Woche angeblich beinahe 90 Prozent seines Volkes wieder einmal zum Präsidenten gekürt hatten, zu eben diesem Volk sprach – nach einem der wohl schlimmsten Terroranschläge der vergangenen 20 Jahre in Russland. 19 Stunden Stille, nachdem die Menschen in der Konzerthalle „Crocus City Hall“ um ihr Leben geschrien hatten.

Mehr als 130 von ihnen überlebten das Attentat nicht, mehr als 150 wurden verletzt, viele davon schwer. Kremlchef Wladimir Putin telefonierte derweil mit dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko, ließ sich offenbar allerlei Berichte von den Ermittlungsarbeiten bringen – und sagte erst etwas, als andere Staatenlenker längst ihr Entsetzen kundgetan und ihr Beileid für die Hinterbliebenen ausgedrückt hatten.

Es ist ein typisches Verhalten Putins, der sich bei Katastrophen erst einmal Zeit verschafft. Das ließ sich beim Untergang des U-Bootes „Kursk“ im August 2000 genauso beobachten wie bei der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater im Oktober 2002 oder bei der Geiselnahme in der Schule von Beslan im September 2004. Beileid zu bekunden, das ist nicht Putins Element. Der 71-Jährige zeigt sich vor allem dann entschlossen, wenn er die Situation kontrollieren kann. Wenn ihm die Kontrolle entgleitet, sucht der russische Präsident erst einmal das Weite.

Dabei war Wladimir Putin gerade in den Tagen nach seiner „Wahl“ besonders redselig. Ein Team seien sie, eine Einheit, hatte er nach seinem als fulminant bezeichneten Sieg an das russische Volk ausrichten lassen. Er ließ sich von seinen Gegenkandidaten huldigen und brachte sie gar auf die Bühne bei den Feierlichkeiten zu zehn Jahren „Rückkehr in den Heimathafen“, wie der Kreml die Annexion der Krim bezeichnet. Der russische Präsident sprach vor den Duma-Fraktionen, sprach vor seinen Vertrauenspersonen, und vor allem tat er das vor dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB, seiner früheren Wirkungsstätte. Die Warnungen der Vereinigten Staaten vor möglichen Anschlägen schlug er in seiner Rede in der Lubjanka verächtlich in den Wind. Die Amerikaner wollten lediglich für Unsicherheit und Verwirrung sorgen, sie „erpressten“ sie, behauptete Putin. Nun ist die Unsicherheit in der Hauptstadt Moskau zu spüren.

Doch das, was der Kremlchef nach fast 20 Stunden Schweigen von sich gibt, wirkt so entrückt von der „Einheit Volk“, dass sein Auftritt noch mehr verunsichert, als dass er den Menschen die Antworten liefert, nach denen sie verlangen: Wie konnten die Attentäter überhaupt in die Veranstaltungshalle kommen? Und warum ist der so aufgeblähte Sicherheitsapparat sofort zur Stelle, wenn ein paar Bürger Blumen für einen toten Oppositionspolitiker ablegen wollen, aber offensichtlich abwesend, wenn bewaffnete Terroristen in einer Menschenmenge um sich schießen?

Während die russischen Behörden in den vergangenen zwei Jahren nahezu täglich Andersdenkende wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“ jagten, haben sie den Blick für echte Gefahren aus Islamistenkreisen vernachlässigt. Um nun nicht allzu viele Fragen dazu beantworten zu müssen, verschärft der Kreml das propagandistische Getöse um eine „ukrainische Spur“ – auch wenn die Regierung in Kiew dies vehement zurückweist und die Terrormiliz IS den Anschlag für sich reklamiert. So lässt Putin die Menschen vollkommen darüber im Ungewissen, was in den kommenden Tagen auf sie zukommen wird.

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