Orthodoxe Macht wankt

Susanne Knaul sieht mit dem Ausgang der Wahl in Isreal die Trennung zwischen Staat und Religion in greifbare Nähe rücken

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Susanne Knaul
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Während sich Benjamin Netanjahu und Benny Gantz, die zwei Spitzenkandidaten der Parlamentswahl, ein quälendes Patt geben, steht noch vor Auszählung aller Stimmen eins fest: Israels orthodoxe Parteien sind gleichzeitig Gewinner und Verlierer der Wahlen. Gewinner, weil die beiden Listen die Zahl der Mandate insgesamt leicht erhöhen konnten. Verlierer, weil sie seit Jahrzehnten zum ersten Mal ernsthaft Gefahr laufen, nicht Teil der Koalition zu sein. Das klare Votum für Avigdor Lieberman, der mit neun Mandaten für seine weltlich-nationale Partei Israel Beteinu fast doppelt so gut abschnitt wie bei den Wahlen im April, ist Indikator dafür, dass Sorge und Unmut angesichts der wachsenden Macht der Frommen im Land wächst.

Lieberman sagt dem orthodoxen Establishment den Kampf an. Gleiche Rechte und gleiche Pflichten für alle Bürger, verlangt er, vor allem in der Frage des Militärdienstes. Bei den Parlamentswahlen ging es nicht nur um den Kampf zwischen Benjamin Netanjahu und Benny Gantz, sondern auch um Staat und Religion.

Nirgends ist das Wahlverhalten disziplinierter als bei den Orthodoxen. Man wählt, weil der Rabbiner es sagt, und man wählt, was er sagt. Seit Staatsgründung halten die Rabbiner ein Monopol auf sämtliche Familienrechte. Wer nicht nach religiösen Regeln heiraten will, muss ins Ausland reisen. Lieberman will dem ein Ende machen. Die Frommen in Israel genießen Sonderrechte, von denen die arabischen Bürger nur träumen: kulturelle Autonomie. Die Minderheit wünscht sich, zusätzlich zur Geschichte der Juden auch die Geschichte der Palästinenser unterrichten zu dürfen.

Eine Koalition ohne orthodoxe Beteiligung könnte den grenzenlosen Privilegien ein Ende machen. Jetzt endlich rückt die Trennung von Staat und Religion in greifbare Nähe.

Korrespondent