Olaf Scholz hat ein mutiges Bild gewählt. Im Herbst nach der Bundestagswahl möchte er als Dirigent ins Kanzleramt einziehen. Nach 16 Merkel-Jahren möchte er Land und Regierungsapparat neue, moderne Klänge entlocken. Dirigenten sind oft bewunderte Schlüsselfiguren. Was wären Orchester ohne virtuose Künstler an der Spitze wie Herbert von Karajan, Simon Rattle, Claudio Abbado oder Daniel Barenboim. Alles Musiker, die es auch dank ihrer beeindruckenden Charaktere schafften, ihre Orchester an und über Grenzen hinaus zu bringen.
Als Hamburger Bürgermeister, der zwei Wahlen grandios gewann, als Bundesfinanzminister und Vizekanzler hat Scholz bewiesen, dass er Regierungskunst kann. Er kann schneller und komplexer denken als viele andere in der Politik.
Deshalb hat er viele wichtige Jobs bekommen und diese gut ausgefüllt. Aber schafft er es in den 140 Tagen bis zur Bundestagswahl, in einem positiven Sinn wie der Rattenfänger aus Hameln einen Teil jener Millionen Wählerinnen und Wähler zu betören und zur SPD zurückzulocken, die seit Gerhard Schröders bombastischen Wahlsieg 1998 in Scharen davongelaufen sind?
Die Zweifel sind nicht kleiner geworden. Scholz hielt inhaltlich durchaus eine gute Rede. Es sei die wichtigste seiner Karriere gewesen, sagte er danach. Doch wie bei einem Konzert in der Hamburger Elbphilharmonie, wo Scholz gern zu Gast ist, reicht es für einen rauschenden Abend nicht, alle Töne zu treffen. Der „Scholzomat“ hat zwar die Instrumente richtig eingesetzt. Respekt, sozialer Zusammenhalt, bessere Löhne in der Pflege, Digitalisierung, Klima. Jeder weiß, dass Deutschland nach der Pandemie besser werden muss. Dass Scholz Kanzler könnte, das sagen viele. Sein Problem: Dass sie dafür SPD wählen, folgt daraus nicht.
So gut das Libretto war, was war das wieder für ein Vortrag? Man soll Politiker nicht verbiegen. Schon richtig. Aber wäre, trotz Corona-Zwängen, nicht mehr Power drin gewesen? Die SPD schleppte sich und ihre 600 Delegierten durch den digitalen Tag. Keine Aufputsch-Musik, keine aufwühlenden Spots, keine Gastauftritte, eine verkopft wirkende schwarz-rote Bauhaus-Bühnenoptik, zwei Vorsitzende als lahme linke Vorstopper, die Scholz eher bremsen werden.
Schröder zitiert mit Blick auf seine Partei gern Luther, dass aus einem verzagten Arsch eben kein fröhlicher Furz komme. Und bitte: Muss man als Vollprofi die wichtigste Rede seines Lebens vom Teleprompter ablesen? Nach und nach soll Scholz jetzt mit seinen Botschaften durchdringen. Der SPD rennt aber die Zeit davon. Corona zerstört die alten Machtpläne der Parteien. Die letzten zwei, drei Wochen galten als Königsdisziplin der Kanzlerkandidaten. TV-Duell, Endspurt, Wechselwähler begeistern. Anfang August werden erste Briefwahlunterlagen in der Post liegen. Etwa jede zweite abgegebene Stimme könnte das sein. Scholz wird nicht mehr viele Chancen bekommen. Laschet ist angeschlagen. Aber die Union hat noch Zugkraft. Baerbock und die Grünen wirken frisch, furchtlos, clever. Wann will Scholz mal ins Risiko gehen? Wann prescht er mit einer Idee vor, die nicht in siebzehn Arbeitskreisen abgesprochen ist?
Olaf Scholz’ größte Achillesferse ist die fehlende Machtperspektive. Die SPD müsste die Grünen überholen, damit Scholz Kanzler von Rot-Rot-Grün oder einer Ampel werden könnte. Habecks Flirt mit den Linken? Ist ein Geschenk für den Lagerwahlkampf der Union. Die SPD braucht ein Wunder – oder einen Dirigenten, der noch mal ein ganz großes Stück raushaut.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/meinung/kommentare_artikel,-kommentar-olaf-scholz-muss-mehr-riskieren-um-die-spd-aus-dem-umfragetief-zu-holen-_arid,1795084.html
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Tim Braune Olaf Scholz muss mehr riskieren, um die SPD aus dem Umfragetief zu holen
Tim Braune findet, die Rede von Kanzlerkandidat Olaf Scholz beim SPD-Parteitag war solide – doch er muss deutlich mehr wagen