Um die Ungeheuerlichkeit des Ansinnens zu verstehen, sollte man sich für einen Augenblick vorstellen, was geschehen würde, wenn es andersherum wäre: Angenommen, der neue Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würde wenige Wochen vor der Bundestagswahl im September in die Türkei reisen und die in der Türkei lebenden Deutschen dazu aufrufen, SPD zu wählen. Ein Aufschrei würde durch die Türkei wie durch Deutschland gehen - zu Recht.
Ein Präsident, der in einem anderen Land Wahlkampf macht? Undenkbar! Genau das aber hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan vor. Er will möglicherweise demnächst nach Deutschland kommen, um unter den hier lebenden Türken für die Verfassungsänderung zu werben, die ihn zum unumschränkt regierenden Alleinherrscher macht. Es wäre der Höhepunkt einer seit längerem laufenden Werbetour der türkischen Regierung. Diese macht unverhohlen Deutschland zum Austragungsort ihrer Propaganda für Erdogan, nachdem bereits sein Ministerpräsident Binali Yilderim in Oberhausen auftrat.
Immerhin, gestern haben die Stadt Köln den Besuch des türkischen Wirtschaftsministers und die Stadt Gaggenau aus Sicherheitsgründen den umstrittenen Auftritt des türkischen Justizministers Bekir Bozdag abgesagt.
Die Bundesregierung hält sich demonstrativ zurück und verschanzt sich hinter dem formal richtigen Hinweis, dass noch nicht feststehe, ob, wann und wo Erdogan auftreten wird. Das Schweigen Berlins hat allerdings auch einen triftigen Grund. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist praktisch in der Hand des Autokraten vom Bosporus, der gleich zwei Faustpfänder besitzt, mit denen er die Bundesregierung de facto erpresst; die rund 2,5 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und den Korrespondenten der "Welt", Deniz Yücel, dem in der Türkei eine langjährige Haftstrafe droht.
Eine fatale Abhängigkeit Berlins. Formal wird die Regierung einen Auftritt Erdogans nicht verbieten können. Aber sie sollte ihm doch mit allen Mitteln der Diplomatie zu verstehen geben, dass er als Wahlkämpfer in eigener Sache unerwünscht ist und dass das gleiche Recht auch den Vertretern der Opposition zusteht, die er in seinem Land mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft.
Das Recht auf Meinungsfreiheit existiert auch und gerade für die, die anderer Meinung sind, und das Grundrecht auf Pressefreiheit ist für ein demokratisches Gemeinwesen sogar unabdingbar. Aber diese Binsenweisheit haben Autokraten noch nie akzeptiert. Die Rechte, die sie wie selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, verweigern sie den anderen.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Fatale Abhängigkeit
Martin Ferber über den Besuch türkischer Politiker und ihren Wahlkampf in Deutschland