Unterhaltung - Am 7. April 1922 eröffnet Fred Löffel das Eden-Kino in Seckenheim – und begründet damit eine Familientradition, die bis heute anhält.

Wie eine Familie aus Seckenheim seit 100 Jahren Kino in der Region macht

Von 
Agnes Polewka
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Die Kinofamilie: Michael (v.l.), Fritz, Christian und Sebastian Kaltenegger. © Christoph Blüthner

Mannheim. Am 7. April 1922 eröffnet Fred Löffel das Eden-Kino in Seckenheim – und begründet damit eine Familientradition, die bis heute anhält. Die Geschichte einer besonderen Familie und ihrer Liebe zum Kino. Von Agnes Polewka

Im Film ändert eine Zufallsbekanntschaft oft alles. Im Leben manchmal auch. Der Schweizer Fred Löffel trifft Anfang der 1920er-Jahre am Mannheimer Hauptbahnhof auf einen Landsmann. Löffel ist auf der Durchreise, in wenigen Stunden fährt sein Zug Richtung Basel. Die Männer plaudern, Löffel erzählt von seinem Ersparten. Vom Wunsch, das Geld zu investieren. Der Mann – ein Theaterleiter – schlägt die Zeitung auf und deutet auf ein Inserat. Das Kino im Mannheimer Stadtteil Seckenheim steht zum Verkauf. Ein gutes Investment – der Film etabliert sich mehr und mehr als Massenmedium, in Deutschland werden so viele Filme produziert wie in keinem anderen europäischen Land. Es ist die Zeit der großen deutschen Regisseure wie Ernst Lubitsch (Madame Dubarry) und Fritz Lang (Metropolis).

Bis 1987 in Seckenheim

Fred Löffel macht sich auf den Weg zum Zug. Auf dem Gleis steht eine junge Frau neben ihm, die Mannheimerin Paula. „Er hat ihr wie ein Gentleman den Vortritt gelassen, und dann kamen beide ins Gespräch – bis Basel saßen sie zusammen“, sagt Fritz Kaltenegger. Der 93-Jährige sitzt auf seiner Terrasse in Seckenheim und lacht. „Wie das Leben eben manchmal so spielt“, kommentiert er die Zufallsbekanntschaft seiner Schwiegereltern. Paula und Fred heiraten. Sie werden Kinobetreiber – die ersten in ihrer Familie. Aber nicht die letzten.

Das Seckenheimer Heimatmuseum hat die Anfangszeit der Löffels in ihrem „Eden“-Kino im Saal des Gasthauses „Zur Kapelle“ gut dokumentiert – und viele Details vor dem Vergessen bewahrt. So bestand das „Eden“ ausschließlich aus Holzbänken. Weil Brennmaterial nach dem Krieg knapp war, wurde das Kino in der Nähe des Wasserturms nur mit dem geheizt, was die Besucher selbst mitbrachten. Für die Akustik sorgte ein automatisches Orgel-Orchester. Ende der 1920er-Jahre mietet Fred Löffel neue, größere Räume an und baut sie zu einem größeren Kino aus: dem „Palast-Kino“, kurz „Pali“, direkt am Rathaus. Fast 30 Jahre lang machen die Löffels hier Kino. „Das Kinogeschäft boomte, die Leute hatten keine Fernseher zu Hause“, sagt Fritz Kaltenegger. So entscheidet sich die Familie, ihr Kino abermals zu vergrößern.

Fritz Kalteneggers Blick wandert zu seinen Söhnen Michael und Christian, die neben ihm auf der Terrasse sitzen. Eine Etage über dem alten Kino, in dem sie aufgewachsen sind. In den 1950er-Jahren steigt Fritz Kaltenegger mit seiner Frau Ingeborg ins Geschäft seiner Schwiegereltern ein. 1956 bauen sie ein neues Lichtspielhaus, sieben Monate lang. 500 Sitzplätze hat das „Helvetia“. Der Name, die neulateinische Bezeichnung für die Schweiz – eine Hommage an Fred Löffels Heimat. Das Kino ist laut Seckenheimer Heimatmuseum eins von 32 Filmtheatern mit über 18 000 Plätzen in der Stadt. Als Fred Löffel 1965 stirbt, übernehmen Ingeborg und Fritz Kaltenegger die Leitung des Kinos. Die Kalteneggers wohnen über dem Kino, in der Wohnung mit der Terrasse, auf der sie nun ihre Geschichte erzählen.

Michael und Christian werden erwachsen. Die kleinen Vorortkinos verschwinden. Sie sind nicht mehr rentabel. Schon in den 70er- Jahren beginnen kleinere Häuser zu straucheln, weil Filmverleiher größeren Kinos das alleinige Erstaufführungsrecht für Filme innerhalb einer Stadt oder Region übertragen. Die anderen müssen warten. „Die Leute wurden mobiler und sind dann einfach dorthin gefahren, wo der Film schon zu sehen war“, sagt der 93-Jährige.

Anfang der 80er-Jahre stellen die Kalteneggers ihr Programm um. Sie zeigen mehr Filmkunst, orientieren sich Richtung Programmkino. Fritz Kaltenegger nähert sich dem Ruhestandsalter und muss eine Entscheidung treffen. Eine, die ihm nicht leicht fällt. 1987 schließt die Familie ihr Seckenheimer Kino – als vorletztes Vorstadtkino in Mannheim.

Christian Kaltenegger macht eine kaufmännische Ausbildung, sein Bruder arbeitet in einer Frankfurter Agentur. Doch der Film lässt sie nicht los. Sie fahren zu Filmfestspielen und Filmwochen. „Ich habe es auch genossen, einmal etwas anderes zu machen“, sagt Michael Kaltenegger. Und doch ist sie immer da, die Liebe zum Film, die Sehnsucht danach, Kino zu machen.

1989 bekommt Christian Kaltenegger ein Angebot. Er übernimmt die Lux Kinos in Frankenthal. Vier Jahre später steigt sein Bruder wieder ins Kinogeschäft ein, leitet die Roxy Kinos in Neustadt. Sie machen Kino, wie sie es von zu Hause kennen. Mit Expertise und viel Liebe zum Detail. Die Kalteneggers heben sich von Mainstream-Kinos ab. Mit ihrer Sneak-Preview – einmal die Woche wird ein Überraschungsfilm gezeigt. Und Kino Vino: Zwischen zwei Filmen gibt es Wein und Pasta. Oder Übertragungen aus den Opernhäusern der Welt und Open-Air-Kino.

Renommierte Regisseure und Darsteller besuchen ihre Häuser. Der Schweizer Buchautor Erich von Däniken reist nach Frankenthal und Neustadt, um dort seine Multivisionsshow aufzuführen. Um die Jahrtausendwende fährt Michael Kaltenegger nach Frankfurt, um Hannelore Elsner abzuholen. Sie hat lange mit Christian Kaltenegger telefoniert, mit ihm über ihre Rolle in „Die Unberührbare“ gesprochen – und zugesagt, die beiden Kinos der Brüder zu besuchen. Drehbücher stapeln sich in ihren Reisetaschen. „Es war beeindruckend, wie sie mit unseren Gästen ins Gespräch kam“, erinnert sich Christian Kaltenegger. Die Brüder wissen, dass Elsner ein Fan von Kino-Trailern ist. Nach der Vorstellung sitzen beide neben ihr in den Kino-Sesseln und schauen einen Zusammenschnitt von Trailern. Bis tief in die Nacht.

2013 holt Christian Kaltenegger Elyas M’Barek auf seiner Fack Ju Göthe-Tour in die Lux Kinos. Der Filmverleih hat nur einen Termin für die Frankenthaler übrig. Zur Unzeit, montags um 14 Uhr. „Aber ich habe mir zugetraut, dass wir das Kino vollbekommen.“ Und das hat er. Mehr noch: M’Barek reist mit dem Hubschrauber an. 300 Schüler der Schiller-Realschule begrüßen den Darsteller im benachbarten Fußballstadion. „Da war was los“, sagt Kaltenegger und lacht. Ohnehin wird viel gelacht, auf der Terrasse in Seckenheim. Neben Fritz Kaltenegger sitzt Sebastian, der Sohn von Christian Kaltenegger. Der 27-Jährige ist vor drei Jahren in das Familiengeschäft eingestiegen. Zunächst hatte er das gar nicht vor, doch dann war es da, das Bedürfnis, mitzumachen in diesem Familienbetrieb, den nicht nur sein Vater, sondern auch seine Mutter managen. „Die Messlatte liegt natürlich schon hoch, aber ich wollte es dann doch probieren.“ Um Menschen eine Freude zu machen. Wie es seine Familie seit 100 Jahren tut. Seitdem zwei Zufallsbekanntschaften alles verändert haben. Ein bisschen wie im Film.

Redaktion

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