Tina Gajdics
Wohl so gut wie jeder hat es schon einmal erlebt: Man geht auf eine Party, tanzt ausgelassen zu lauter Musik oder besucht ein Konzert und bemerkt erst am anderen Morgen, dass man sich selbst geschadet hat - wenn man nach dem Aufwachen plötzlich ein lautes Pfeifen oder Rauschen in den Ohren hört. Die unangenehmen Geräusche im Kopf, Tinnitus genannt, die ihre Ursache auch in zu viel Stress haben können, betreffen heute fünf bis zehn Prozent der Menschen. Man spricht daher in Deutschland zunehmend von einer Volkskrankheit. Wenn sich das eigene Ohr unüberhörbar zu Wort meldet, ist es wichtig, schnell zu handeln. Allerdings versagen die herkömmlichen Behandlungsmethoden bei manchen Patienten völlig.
Prof. Dr. Heike Argstatter und ihre Kollegen in der SRH Hochschule sowie im Deutschen Zentrum für Musiktherapie in Heidelberg haben eine einzigartige Methode entwickelt, wie man mit einem chronischen Tinnitus leben und ihn in 80 Prozent der Fälle sogar heilen kann. Hinter der Strategie steht die Idee, dass Musik sehr stark auf das menschliche Gehirn wirkt und verschiedene Areale stimuliert. Die Professorin und ihre Studenten sind von der offenkundigen Tatsache ausgegangen, dass "Musik etwas zum Hören ist und Tinnitus etwas mit dem Hören zu tun hat. Es ist sinnvoll, Gleiches mit Gleichem zu behandeln", erklärt sie.
"Wenn der Tinnitus die Dauer von zwei Wochen überschreitet, verselbstständigt sich dieses Geräusch und verändert die Struktur im Gehirn. Das Geräusch wandert quasi in den Kopf. Dann kann man auf der Ebene des Ohres therapieren was man will, da tut sich nichts mehr", gibt Argstatter zu bedenken. An dieser Stelle setzt die neue musikalische Therapie an. "Wir bringen den Patienten mit dem Ton in Kontakt, um ihn aktiv mit dem Tinnitus arbeiten zu lassen. Denn weder passives Zuhören noch trockenes darüber Reden hilft den Menschen." Die Therapeuten wollen herausfinden, wie "sich der innere Ton anhört, wenn man ihn nach außen transportiert", erläutert die Professorin.
Die Patienten lernen, den eigenen Ton, den ihr Kopf produziert, nachzusingen. Die Betroffenen überlagern ihn auf diese Weise mit ihren Mitteln. Zimmerspringbrunnen und Entspannungsmusik sind damit Vergangenheit. "Die Zellen im Gehirn lernen wieder, wann sie ihr ,Fähnchen' hochhalten müssen und wann sie still sein sollen", formuliert es Argstatter.
Patienten aus der ganzen Welt
Eine musikalische Vorbildung ist für die Patienten nicht nötig. Sie können wählen zwischen einer zehnwöchigen oder einer Kompakt-Therapie, die innerhalb von sieben Tagen von den Patienten, die aus der ganzen Welt - den USA, dem Irak oder aus China - kommen, absolviert wird. Danach müssen die Betroffenen die Übungen noch drei Monate selbstständig weiterführen.
"Diese eine Woche, die sie bei uns sind, ist sozusagen die Gipsphase, wenn man die Ohrgeräusche mit einem gebrochen Knochen vergleichen will", veranschaulicht Argstatter dies. "Und die drei Monate danach sind im Prinzip die Krankengymnastik."
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/heidelberg_artikel,-heidelberg-heilende-kraft-der-musik-gegen-tinnitus-_arid,60023.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/heidelberg.html