Inklusion

Film-App aus Mannheim für Blinde und Gehörlose: Meilenstein für barrierefreies Kino

Die Erfindung der Greta App vor zehn Jahren war ein Durchbruch in Sachen Inklusion. Mit der App können auch Blinde und Gehörlose Kino erleben. Erfinderin ist die Mannheimerin Seneit Debese

Von 
Valerie Gerards
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Die App der Mannheimerin Seneit Debese ermöglicht blinden und gehörlosen Menschen Kinobesuche. © Jonas Holthaus

Mannheim. Wenn blinde und gehörlose Menschen ins Kino gehen, benutzen sie eine App, die das Berliner Filmtech-Unternehmen Greta & Starks entwickelt hat: Sie ermöglichte in den vergangenen zehn Jahren über 600.000 Menschen einen Besuch in mehr als 6000 Kinosälen.

Am Rande der Berlinale feiert das Berliner Filmtech-Unternehmen nun am Sonntag Jubiläum. Die Mannheimerin Seneit Debese, Gründerin und Geschäftsführerin von Greta & Starks, ebnete mit ihrer Erfindung blinden und gehörlosen Menschen den Weg vor die große Leinwand.

5,9 Millionen Menschen vom Kino ausgeschlossen

Hör- und sehbehinderte Menschen hatten zuvor so gut wie keine Möglichkeit, Kino zu erleben, geschweige denn selbstbestimmt, flexibel und individuell ins Kino zu gehen. 5,9 Millionen Menschen in Deutschland waren von diesem Erlebnis ausgeschlossen.

Für die einen war es normal, dass sie vom gesellschaftlichen und kulturellen Leben ausgeschlossen waren, die anderen hätten diese Missstände noch nicht einmal bemerkt, wie es aus dem Unternehmen heißt. Die Bedürfnisse dieser Menschen seien über Jahrzehnte ignoriert worden. 2014 sollte sich das durch die Erfindung von Seneit Debese ändern.

Es gibt seit den 80er Jahren die Audiodeskription im Fernsehen, aber nicht für’s Kino. Wir können seit 50 Jahren auf den Mond fliegen - warum gibt es da noch so ein Thema in Deutschland?
Seneit Debese Geschäftsführerin von Greta & Starks

Debese hat 2011 eine Reportage über eine blinde Läuferin gedreht, die für die Weltmeisterschaft nominiert war. Dabei ist ihr aufgefallen, dass sie sich wie andere 19-Jährige auch mit Freunden trifft, gern shoppen und auch ins Kino geht.

„Ich war ja jemand aus der Kinobranche und habe zu diesem Zeitpunkt das Problem erkannt. Es gibt seit den 80er Jahren die Audiodeskription im Fernsehen, aber nicht für’s Kino. Wir können seit 50 Jahren auf den Mond fliegen - warum gibt es da noch so ein Thema in Deutschland?“, blickt die Filmaktivistin zurück.

Debese arbeitete an der technischen Lösung. Ermöglicht wurde das durch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen von 2008 und die Durchsetzungsmacht der Blindenorganisationen in den USA. 2009 hat Apple daraufhin alle Geräte mit Voice Over ausgestattet, damit die Smartdevices für blinde Menschen barrierefrei nutzbar waren. Darauf baut die Technologie von Greta & Starks auf.

So funktioniert die Kino-App

Die Nutzerinnen und Nutzer laden sich Greta aus den App Stores kostenlos herunter und laden sich die barrierefrei Fassung des Films mit Audiodeskription herunter, in der handlungsrelevante Bildbeschreibung, die in die Dialogpausen gesprochen wird, enthalten ist. Im Kino drücken sie „play“. Die Greta App synchronisiert sich automatisch mit dem Filmton.

Die Nutzer können sich entspannt zurück lehnen und in den Film eintauchen: Blinde Menschen hören den Film über ihre Kopfhörer, Gehörlose lesen die Audiodeskription auf dem Display, und für Gehörbehinderte kann die App in klarer Sprache aufs Hörgerät übertragen werden.

Die Kino-App Greta feiert in Berlin Zehnjähriges. © Marcus Oehler

„Die Kinder aus der Blindenschule in Ilvesheim und aus ganz Deutschland konnten damals nicht ins Kino, wann sie wollten“, resümiert Debese. Es habe nur sehr selten spezielle Filmvorführungen für blinde Menschen gegeben, sie konnten nicht einfach in das Kino und in den Film, den sie wollten.

Technologie aus Mannheim weltweit gefragt

Seit 2014 ist das anders. Blinde, gehörlose, hör- oder sehbehinderte Filmfans können mit ihren Familienmitgliedern, Kommilitonen und Freunden am Kinoerlebnis teilhaben. Die Audiodeskription wird ihnen softwarebasiert per App in jedem Kino zugänglich gemacht. „Ein besonders großer Filmfan aus der Blindenschule in Ilvesheim hat immer Filme aufgelistet, die er sehen wollte. Diese Wünsche haben wir mit aufgegriffen, das hat ganz oft geklappt“, berichtet Debese.

Die Technologie wird weltweit nachgefragt. Neben der Originalfassung sind die meisten Filme auch auf Spanisch, Englisch, Türkisch und Ukrainisch verfügbar - viele Anwenderinnen und Anwender seien Kriegsinvalide, sagt Seneit Debese. Die Greta App gibt es mittlerweile auch in Österreich, Schweiz, Israel, seit 2023 ist sie auch in Brasilien und der Ukraine verfügbar. In diesem Jahr wurde beziehungsweise wird sie in Schweden, Frankreich und den USA eingeführt.

Horrorfilme sind besonders beliebt

Als die App herauskam, hätten die Kinobetreiber laut Debese noch nicht verstanden, warum blinde Meschen überhaupt ins Kino wollen und worum es geht. „In den meisten Familien ist nur eine Person blind, und die wollen ja mit ihrer Familie zusammen ins Kino“, erklärt Debese. Kino sei zwar ein visuelles Erlebnis, aber es gehe um die Geschichte, die Blinde durch handlungsrelevante Tonbeschreibungen, etwa sich anbahnende Schritte, erleben können.

Beliebt seien gerade Horrorfilme. „Für blinde Menschen ist das wie ein Hörbuch. Wir können uns ja auch super gruseln, wenn wir ein Buch lesen oder ein Hörbuch hören“, verdeutlicht die Erfinderin. Nach zehn Jahren würden eigentlich alle Betroffenen die App kennen, meint Debese. Es kämen aber immer noch wöchentlich Zuschriften von Leuten, die ein Kinoerlebnis hatten und Danke sagen.

Freie Autorin

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