Leichtathletik

Medaillenlose Leichtathletik-WM: Langjähriger Bundestrainer Harksen nennt die Gründe

Die deutsche Leichtathletik war bei den Weltmeisterschaften in Budapest historisch schlecht. Rüdiger Harksen, langjähriger Bundestrainer und aktuell Leistungssportchef der MTG Mannheim, sieht auch ein gesellschaftliches Problem

Von 
Christian Rotter
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Auch die 4x100-Meter-Staffel um Joshua Hartmann (li.) und Lucas Ansah-Peprah ging bei der WM leer aus. © Ashley Landis/dpa

Mannheim/Budapest. Herr Harksen, keine Medaille in Budapest - wie beurteilen Sie die WM-Bilanz der deutschen Leichtathletik?

Rüdiger Harksen: Das ist eine Frage der Sichtweise. Wenn man nur die Medaillen zählt, ist die Ausbeute natürlich erschreckend. Wenn man das Urteil aber auf die Leistungen der knapp 70 Athletinnen und Athleten bezieht, die in Budapest starteten, und ihre Vorleistungen berücksichtigt, war auch Erfreuliches dabei.

Was zum Beispiel?

Harksen: Nehmen wir Geher Christopher Linke mit seinen zwei deutschen Rekorden. Oder Yemisi Ogunleye von unserer MTG Mannheim. Sie war die Jüngste im Feld der Kugelstoßerinnen. Mit 19,44 Metern hat sie morgens in der Qualifikation Bestweite gestoßen. Damit bewegt sie sich im Bereich der Weltspitze. Abends wurde sie im Finale der Besten dann Zehnte. Auch die Leistung von Hochspringer Tobias Potye war sehr gut. Er hat eine Medaille nur verpasst, weil er einen Fehlversuch mehr verzeichnete als der höhengleiche Konkurrent. Hochspringerin Christina Honsel durfte mit ihren 1,94 Metern ebenfalls zufrieden sein. Unterm Strich bleibt festzuhalten, dass es Licht und Schatten gab. Die meisten haben das gezeigt, was sie können. Es gab aber auch Ausfälle.

Welche?

Harksen: Joshua Hartmann hat sich zum Beispiel über 200 Meter taktisch völlig verzockt. Auch seine Wechsel-ei in der Staffel war nicht zufriedenstellend. Bei einzelnen Athleten hatte man den Eindruck, der Post auf Instagram über das schöne Budapest sei wichtiger als die kritische Hinterfragung des eigenen nicht zufriedenstellenden Abschneidens.

Nach der WM haben einige ehemalige Athleten Kritik am Deutschen Leichtathletik-Verband geübt. Teilen Sie diese?

Harksen: Der ehemalige DLV-Präsident Clemens Prokop hat etwas sehr Kluges gesagt, nämlich, dass das Ergebnis der WM ein Spiegelbild unserer Gesellschaft auch in puncto Leistungsgedanke ist. Oft ist es zweitrangig, Leistung zu bringen. Ich bin stolz darauf, in einem funktionierenden Sozialstaat zu leben, und es ist auch richtig, an der Seite der Armen, Bedürftigen und Benachteiligten zu stehen. Gleichzeitig ist es genauso wichtig, die Eliten zu fördern. Wenn man in einem reichen Land wie Deutschland lebt, muss man erwarten dürfen, dass der Sport gefördert wird. Im Moment wird er gekürzt.

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Von
Reinhard Köchl
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Und der Verband?

Harksen: Der DLV muss schauen, dass es mit den wichtigsten Partnern - das sind Sportler, Trainer, Vereine - eine bessere Interaktion gibt. Nach dem Fiasko bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking mit nur einer Medaille gab es großen politischen Druck. Der DLV musste handeln, weil 2009 die WM im eigenen Land in Berlin stattfand. Es wurden zwei Cheftrainer installiert: einer für Track, einer für Field. Ich war der für Track und habe mich mit meinem Kollegen Herbert Czingon gefragt, was wir eigentlich machen sollen. Wir konnten nicht innerhalb von einem Jahr alles ändern. Wir haben da angesetzt, wo Leistung produziert wird, sind zu den Topathleten und den Vereinen gefahren und haben über den Verband versucht, individuelle Hilfen, soweit es möglich war, zu organisieren. Der Verband muss sich mehr als Dienstleister begreifen. Das ist der einzige Hebel, an dem man kurzfristig ansetzen kann.

Was machen andere europäische Länder wie Norwegen und die Niederlande besser?

Harksen: Das ist auffällig. Es sind ja nicht nur Norwegen und Holland, sondern auch Italien, Belgien und die Schweiz. Viele europäische Nationen haben uns in einigen Disziplinen den Rang abgelaufen. In der Schweiz gibt es zum Beispiel fünfmal in der Woche Sportunterricht. Die Holländer haben ein Leistungszentrum in Papendahl - das ist herausragend. Die Athleten werden dort optimal betreut. Sie konzentrieren die Kräfte. Die Frage ist, ob das in Deutschland so auch gehen würde, was ich bezweifle. Wir könnten uns eher über mehrere Zentren Gedanken machen, dass man Disziplinschwerpunkte setzt. Es gibt in Deutschland auch gute Trainer. Allerdings auch sehr gute, die ins Ausland gehen, weil dort besser bezahlt wird.

Gibt es andere Faktoren?

Harksen: Bei uns hat der Leistungssport nicht mehr den gleichen Stellenwert wie früher. Der Spaßcharakter dominiert in vielen Bereichen. Leistung bringen bedeutet, sich quälen zu können und zu wollen. Man muss bereit sein, knallhart zu trainieren. Das muss von allen Beteiligten gewollt werden und die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Das hat nicht nur mit Spaß, sondern auch mit Hingabe zu tun.

Der ehemalige Weltklasse-Zehnkämpfer Frank Busemann hat gesagt, dass Deutschland auf dem Weg ist, Leistung abzuschaffen.

Harksen: Ich würde diesem Satz in weiten Teilen folgen, hier ist wohl der Schwenk auf die gesellschaftliche Ebene gemeint. Leistung muss sich in vielen Bereichen doch gar nicht mehr lohnen. Leistungsanreize können oft durch Kompensationen des sozialen Systems in den Hintergrund geraten. Es wird teilweise zu viel gefördert, statt zu fordern. Spitzensport stellt in allen Bereichen höchste Anforderungen.

Rüdiger Harksen



 

  • Rüdiger Harksen wurde am 23. September 1954 in Hockenheim geboren.
  • Der 68-jährige Seckenheimer war ab September 2008 zwei Jahre lang als DLV-Cheftrainer für die Bereiche Lauf und Sprint tätig.
  • 2010 kehrte Harksen an die Basis zurück. Viele Jahre war er als Bundestrainer beim DLV für die Hürdensprinterinnen zuständig. Bei der MTG Mannheim ist Harksen Stellvertretender Vorsitzender des Gesamtvereins und Leistungssportchef der Leichtathleten. cr

Was halten Sie vor diesem Hintergrund davon, bei den Bundesjugendspielen künftig auf den Leistungsvergleich zu verzichten?

Harksen: Das ist aus meiner Sicht ein Skandal! Wenn man in der sportlichen Leistung abbaut - und das ist ja nicht nur die Leichtathletik, man muss ja nur mal zum Fußball schauen - dann auch noch so was! Schwimmen, Boxen, Rudern, Fechten - wir rutschen doch in den meisten olympischen Sommersportarten hinten runter. Das kann doch kein Zufall sein! Ich sehe momentan nirgendwo einen Stopp dieser Abwärtsspirale. Und jetzt ziehe ich mir noch das Blut aus dem Kreislauf des Nachwuchses raus, indem ich die Bundesjugendspiele in der Form abschaffe und es keine Konkurrenz, kein Gewinnen und Verlieren mehr geben darf. Das ist so an der Lebenswirklichkeit vorbei. Auch dass im Fußball-Nachwuchsbereich die Tore nicht mehr gezählt werden und es keine Tabelle mehr geben soll, kann ich nicht nachvollziehen. Diese Formen der Kuschelpädagogik haben uns in der Vergangenheit nicht weitergebracht und werden uns auch künftig schaden.

Bei der Aufarbeitung des WM-Fiaskos war beim DLV herauszuhören, dass man Olympia 2024 fast schon abgeschrieben hat, vier Jahre später aber wieder unter den Top Fünf sein will. Ist das ein realistisches Ziel?

Harksen: Das wird sehr schwer. Wenn Vorzeigeathleten wie Malaika Mihambo oder Johannes Vetter, die für Budapest ausgefallen sind, auf die große Bühne zurückkehren und nächstes Jahr gesund sind, wird das Bild schöner. Das sind nachgewiesenermaßen leistungsstarke Athleten. Oder wenn Zehnkämpfer Leo Neugebauer, der ein neuer Sympathieträger ist und in Budapest den zweitbesten Wettkampf seines Lebens absolviert und Fünfter wird, am zweiten Tag etwas gefasster auftritt, ist da auch Großes möglich. Es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass wir schon nächstes Jahr besser aussehen.

Redaktion Koordinator der Sportredaktion

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