Analyse

Europas Programm für Selbstversorgung

EU-Kommission warnt vor einer neuen Energiekrise – und will die Abhängigkeit von China und den USA verringern

Von 
Christian Kerl
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Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, trifft zur Sitzung des Kollegiums ein. © Virginia Mayo/dpa

Brüssel. Riskante Hürde für die ehrgeizige Klimaschutzpolitik Deutschlands und Europas: Beim Umstieg auf erneuerbare Energien droht eine gefährliche Technologielücke. Solar, Wind, Wärmepumpe: Die Union sei bei vielen grünen Technologien „stark von Importen abhängig oder droht, es zu werden“, warnt die EU-Kommission in einer aktuellen Analyse. Sie fürchtet deshalb bei der Energieversorgung neue „Unterbrechungen und Engpässe“, nachdem sich Europa gerade erst vom russischen Gas lösen musste. „Die Pandemie und der Ukraine-Krieg haben uns eine bittere Lektion in Sachen Abhängigkeiten erteilt“, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Mit einem Programm für mehr Selbstversorgung will Brüssel reagieren – eine Kampfansage an die USA und China, Kritiker warnen vor Protektionismus.

EU hinkt weit hinterher

Der Rückstand ist enorm: Bei der Solarenergie sei die Union in großem Ausmaß auf Einfuhren aus China angewiesen und bei Komponenten wie den hauchdünnen Siliziumscheiben für Solarzellen liege die Abhängigkeit bei über 90 Prozent, heißt es in der Kommissionsanalyse. Und weiter: „Selbst bei Wärmepumpen und Windtechnologie, wo die Marktposition der EU besser ist, verschlechtert sich die europäische Wettbewerbsfähigkeit“. Auch bei der Kernenergie komme von den aktuellen Projekten weltweit nur ein Reaktor-Modell aus Europa. Damit ist aus Brüsseler Sicht die Sicherheit der Energieversorgung und die Wettbewerbsfähigkeit der Union gefährdet. Und die Aussichten sind düster, weil große Wettbewerber jetzt mit Milliarden-Subventionen ihre grüne Industrie fördern und Investoren anlocken – die USA mit dem umstrittenen „Inflation Reduction Act“, aber auch China, Japan und Indien würden so die europäische Industrie unter Druck setzen und den Wettbewerb verzerren, warnt die Kommission.

Von der Leyen und ihr Team reagierten am Donnerstag mit einer ehrgeizigen Ansage: Ein „Netto-Null-Industrie-Gesetz“ soll den Weg für höhere Subventionen in grüne Technologie auch in Europa freimachen und die Genehmigungen drastisch beschleunigen. Der Gesetzentwurf der Kommission gibt, anders als die USA in ihrem Programm, auch gleich selbst Produktionsziele vor: Europa soll seine benötigte grüne Schlüsseltechnologie spätestens ab 2030 zu mindestens 40 Prozent selbst herstellen. Für einzelne Sektoren sind die Pläne noch ambitionierter: Bei Batterien etwa soll die Selbstversorgung dann bei 90 Prozent liegen, für andere Technologien sind feste Ausbaumengen vorgesehen. In der Beschreibung großer Ziele haben die Kommissionsbeamten viel Routine, für die Umsetzung sind sie nicht zuständig – ob die Vorgaben jemals erreicht werden, ist offen.

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Die Instrumente, auf die sich die europäische Aufholjagd stützt, zielen aber zumindest auf die größten Schwachstellen: So will die EU-Kommission für wichtige Projekte die langen Genehmigungszeiten verbindlich verkürzen – bei als „strategisch wichtig“ deklarierten Projekten soll die Genehmigung je nach Umfang binnen neun oder zwölf Monaten vorliegen. Zugleich will die EU die benötigten Investitionen massiv fördern. Die strengen Subventionsregeln der EU sollen gelockert werden, damit Unternehmen schneller und einfacher mehr Fördergelder erhalten können.

Die Kommission plant dafür auch einen „Souveränitätsfonds“ als neuen Fördertopf im EU-Haushalt. Schließlich will die Kommission die Versorgung mit seltenen Rohstoffen sichern, die etwa für Batterien benötigt werden. Dafür legte sie einen eigenen Gesetzentwurf vor, nach dem höchstens 65 Prozent des EU-Jahresverbrauchs an wichtigen Rohstoffen aus einem einzigen Drittland stammen dürfen; mindestens zehn Prozent wichtiger Mineralien und Erze sollen in der EU abgebaut werden. Derzeit bezieht das vereinte Europa etwa Seltene Erden oder Magnesium fast vollständig aus China.

Brisant: Auch neue Atomkraft-Projekte sollen zum Teil unter die Förderung fallen und von beschleunigter Genehmigung profitieren –wenn es sich um „fortschrittliche Technik“ handelt, etwa sogenannte Mini-Reaktoren. Konfliktträchtig ist auch, dass die in Deutschland lange Zeit umstrittene Kohlenstoffspeicherung massiv vorangetrieben werden soll: Mitgliedstaaten müssen auf ihrem Hoheitsgebiet Gebiete angeben, die für die CO2-Speicherung in Frage kommen. Förderfähig sind demnach zudem Solar- und Windkraft, Wärmepumpen, grüner Wasserstoff, Netzausbau, Energie-Speicher oder Biogas. Über das Paket sollen die EU-Staats- und Regierungschefs nächste Woche beraten.

Scholz lobt Programm

Kanzler Olaf Scholz (SPD) lobte am Donnerstag im Bundestag bereits die Grundzüge: „Wir wollen noch schneller und besser werden bei der Herstellung, Einführung und Anwendung grüner Zukunftstechnologien“, sagte Scholz. Dafür müsse Europa an einem Strang ziehen. Der Kanzler warb für Zuversicht mit dem Hinweis, wie schnell die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen beendet wurde: „Wenn es darauf ankommt, dann können wir Aufbruch und Umbruch, Tempo und Transformation“, erklärte Scholz. Doch es gibt auch Bedenken: Der Brüsseler Thinktank Bruegel nannte das Programm bereits „besorgniserregend“. Die politischen Ziele seien ein Rückfall zur wenig erfolgreichen industriellen Planung der 60er-Jahre und „unverfroren protektionistisch“.

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