Coronavirus

Risikoforscher hat keine Angst vor Ansteckung

Von 
Madeleine Bierlein
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© MM-Grafik

Mannheim/Potsdam. Sozialwissenschaftler Ortwin Renn untersucht seit vielen Jahren den Umgang der Gesellschaft mit Bedrohungen. Im Interview spricht der Potsdamer Risikoforscher über die Angst der Menschen vor dem Coronavirus und wie sie mit dieser umgehen.

  • Ortwin Renn (Jahrgang 1951) ist ein deutscher Soziologe und Nachhaltigkeitswissenschaftler.
  • Er ist wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam und Inhaber des Lehrstuhls „Technik- und Umweltsoziologie“ an der Universität Stuttgart. Dazu kommen Honorar- und Ehrenprofessuren in Stavanger, Peking und München.
  • Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Risikoforschung. Er ist Autor des Buches „Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten“ (Fischer, 14,99 Euro).

Herr Professor Renn, haben Sie Angst, sich mit dem Coronavirus zu infizieren?

Ortwin Renn: Nein, zumindest derzeit nicht. Das könnte aber auch daran liegen, dass ich in Potsdam und damit in einem Gebiet lebe, wo es kaum Fälle gibt.

In Deutschland sind Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel ausverkauft. Die Börse geht auf Talfahrt. Ist das eine Massenangst?

Renn: Das Thema beschäftigt die Menschen stark. Von einer Massenangst oder gar Massenpanik zu sprechen, wäre allerdings übertrieben. Aber natürlich gibt es in Teilen der Bevölkerung eine steigende Beunruhigung. Und die Hamsterkäufe zeigen: Einige rechnen mit Schlimmerem.

Was ist Angst überhaupt?

Renn: Das Gefühl, dass eine Bedrohung vor einem liegt, auf die man nicht gut vorbereitet ist oder die man nicht richtig einschätzen kann. Im Vergleich zur Furcht, die konkreter ist, ist die Angst diffus, sie geht mit einem Gefühl der Beklemmung einher.

Und wozu dient sie?

Renn: Menschen, die sie nicht haben, werden tollkühn und leben nicht lange. Insofern ist Angst eine sinnvolle Orientierung fürs Leben und Überleben. Aber sie ist auch oft fehlgeleitet und kann dann lähmend wirken.

Die Reaktionen auf die Ausbreitung des Virus fallen unterschiedlich aus. Wie erklären Sie das?

Renn: In einer Angstsituation gibt es drei grundlegende menschliche Reaktionsmuster: totstellen, fliehen oder kämpfen. Diese sind sehr tief in uns verankert. Bei Bedrohungen können wir sie immer wieder beobachten - auch jetzt.

Inwiefern?

Renn: Einige Menschen, und das sind nicht wenige, stellen sich angesichts der Verbreitung des Coronavirus im übertragenen Sinn tot. Sie sagen: Das wird uns schon nicht betreffen. Sie machen einfach so weiter, als wäre nichts. Die zweite Gruppe sind die Fluchttypen. Sie bleiben zu Hause, sagen Reisen und andere Treffen ab. Die Kämpfer hingegen kaufen Mundschutz und Vorräte, stellen sich so der Bedrohung. Zwischen diesen drei Typen kann es dann auch zu Missverständnissen und Spannungen kommen.

Warum haben viele Menschen Angst vor Corona, aber kaum vor der Grippe, die regelmäßig Tausende Menschenleben fordert?

Renn: Die Vertrautheit ist ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt. Die Grippe kennen wir, daher ruft sie nicht so große Ängste hervor. Auf das Coronavirus müssen wir uns erst noch einstellen. Vieles ist noch ungewiss, wir wissen nicht, wie sich die Krankheit entwickeln wird. Außerdem kommt das Coronavirus aus der Ferne, ist exotisch. Das übt eine gewisse Faszination aus, schürt aber auch Ängste. Und letztlich wird das Thema international sehr intensiv diskutiert, alle Medien und sozialen Netzwerke weltweit berichten darüber, was ebenfalls verstärkend wirkt.

Wie gehen die Medien Ihrer Meinung nach mit dem Thema um?

Renn: Sie spielen eine sehr wichtige Rolle, denn sie sind es, die das Thema in die Gesellschaft hineinbringen. Insgesamt gesehen finde ich, dass die klassischen Medien relativ ausgewogen berichten. In den sozialen Netzwerken ist das anders. Da findet man extrem Angst machende Berichte bis hin zu Verschwörungstheorien, die unhaltbar - um nicht zu sagen Schwachsinn - sind.

Sind die Deutschen ein besonders ängstliches Volk?

Renn: Angst gibt es überall. Doch in vielen Ländern, und Gott sei Dank gehört auch Deutschland dazu, ist die Bevölkerung nur noch wenigen ernstzunehmenden Bedrohungen ausgesetzt. Das menschliche Angstpotenzial verschwindet deswegen aber nicht. Und dann konzentriert es sich auf einen Auslöser, der zwar ein Gefahrenpotenzial birgt, aber mit einem geringen Risiko verbunden ist. Das kann der Schadstoff der Woche sein, Influenza oder eben auch das Coronavirus. Dazu kommt, dass unser Körper Glückshormone ausschüttet, wenn es uns gelingt, unsere Angst zu überwinden.

Können Sie das genauer erklären?

Renn: Es handelt sich dabei um einen Mechanismus, der dafür sorgt, dass wir nicht vergessen, wie wir Bedrohungen erfolgreich bewältigt haben. Und durch Glückshormone, die Endorphine, fühlt sich die Überwindung sehr gut an. Das führt dann dazu, dass Menschen Bungee-Jumping machen, Krimis schauen oder Krieg im virtuellen Raum spielen.

Gehen die Bundesregierung und die zuständigen Stellen angemessen mit der Angst der Bevölkerung um?

Renn: Aus meiner Sicht machen sie es nicht schlecht. Sie unterschätzen die Angst nicht und sprechen sie auch an. Gleichzeitig sagen Politiker wie Gesundheitsminister Jens Spahn, dass Deutschland in der Lage ist, mit dieser Bedrohung fertig zu werden. Seine Botschaft ist: Wir sind in der Lage, Menschen angemessen zu versorgen, selbst wenn sich noch mehr Menschen anstecken sollten. Diese Aussage ist meiner Meinung nach sehr wichtig, denn sie hilft, der Angst etwas entgegenzustellen, was Zuversicht ausstrahlt.

Redaktion Nachrichtenchefin mit Schwerpunkt Wissenschaftsjournalismus

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