London. Fünf Jahre ist her, dass der Grenfell-Tower im Westen Londons sich in ein flammendes Inferno verwandelte. Menschen, die in der Nähe leben, erinnern sich an die Ereignisse jedoch, als seien sie eben erst geschehen. Eine von ihnen ist Moyra Samuels. Die 65-jährige Aktivistin wohnt nur 300 Meter von dem Wohnturm entfernt. Noch in der Nacht rannte hin. „Was ich dann mit ansehen musste, war schrecklich“, sagt sie und schweigt für einen Moment, als würden sie die Bilder wieder einholen. In dem Turm saßen Familien in ihren Wohnungen eingesperrt von den Flammen. Menschen sprangen aus dem Wohnturm in die Tiefe. Manche schlugen Fenster ein, vermutlich um Luft hereinzulassen. Andere flehten um Hilfe. Menschen schrien die Nummer ihrer Etage. „Es war der Anblick des brennenden Wohnturms, jene Hilflosigkeit in dieser Nacht, die viele Menschen in der Gemeinde bis heute traumatisieren“, meint Samuels.
72 Menschen starben am 14. Juni 2017 in den Flammen oder an den Folgen des Brandes, darunter 18 Kinder. Vor allem diejenigen, die in den obersten Stockwerken wohnten, hatten wenig Chancen. Der Brand gilt als die verheerende Katastrophe dieser Art seit dem Zweiten Weltkrieg. Mittlerweile wurden die verkohlten Mauern des Wohnturmes mit weißen Folien eingehüllt. Hoch oben ist ein Plakat angebracht, darauf ist ein grünes Herz abgebildet, daneben steht: „Grenfell Tower. Forever in our Hearts“, „Grenfell Tower. Für immer in unseren Herzen“.
Wie es zu der Katastrophe kommen konnte, ahnte man früh: Die leicht entzündbare Wetterschutzverkleidung auf der Fassade war schuld an dem verheerenden Brand in dem 24-geschossigen Sozialbau. Außerdem wurde die Menschen dazu aufgerufen, in ihren Wohnungen auf Hilfe zu warten, statt selbstständig so schnell wie möglich aus dem Gebäude zu flüchten, mitten in einem der reichsten Viertel der britischen Hauptstadt im Bezirk Kensington und Chelsea gelegen.
In keinem anderen Stadtteil in London leben Arm und Reich so eng nebeneinander. „Nach dem Unglück hielt die Gemeinschaft jedoch zusammen“, erinnert sich Maja Neske. Die gebürtige Hamburgerin lebt in direkter Nachbarschaft des Grenfell-Towers. Sie organisierte und verteilte Spenden. „Alle halfen, egal mit welchem Hintergrund”, erinnert sich die Architektin. Sie beteiligte sich an den zunächst immer am 14. des Monats stattfindenden „Stillen Märschen“. Tausende Menschen liefen damals mit Plakaten durch die Straßen und forderten „Justice for Grenfell“, „Gerechtigkeit für Grenfell“. Das grüne Herz, das heute auch noch auf dem Tower zu sehen ist, wurde zu einem Symbol für den gemeinsamen Kampf für besseren und vor allem sicheren sozialen Wohnungsbau in Großbritannien.
So wach wie die Erinnerung an die ersten Tage nach dem Brand ist, so groß ist der Frust vieler Menschen darüber, dass sich trotz der Proteste nicht genug getan hat. Die Grenfell-Aktivisten beklagten zum Beispiel, dass Bewohner des Wohnturmes im Vorfeld der Katastrophe Sorgen über die Sicherheit des Gebäudes geäußert hatten, damit jedoch bei den zuständigen Unternehmen und Behörden kein Gehör fanden.
Eine kurz nach der Katastrophe durch die damalige Premierministerin Theresa May einberufene Untersuchungskommission, kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass der Brand von einem Kühlschrank in Wohnung Nummer 16 ausging. Von dort konnte er sich aufgrund der schlecht gesicherten Außenverkleidung und unzureichender Brandschutzmaßnahmen schnell auf weite Teile des Gebäudes ausbreiten. Die Kommission stellte außerdem heraus, dass die Kommunikation zwischen der Feuerwehreinheiten vor Ort und der Einsatzzentrale verbessert werden müsse. Überdies sollten Unternehmen mehr Transparenz darüber herstellen, welche Baustoffe sie verwenden. In Gesetze gegossen wurden diese „Vorschläge“ jedoch bislang nicht.
„Das dominierende Gefühl in der Gemeinde ist Wut”, erzählt die Deutsche Maja Neske. Viele sind sich einig: Wäre eine solche Katastrophe, in einem Haus passiert, in dem reiche Menschen leben, dann hätte man viel früher nach dem Unglück Schritte unternommen, damit so etwas nie wieder passieren kann. Die vermeintliche Tatenlosigkeit der Politik sehen sie als strukturelles Problem. Es werde nichts getan, weil es sich um die Belange von ärmeren Teilen der Bevölkerung handelt, von denen viele einen Migrationshintergrund haben. Zusätzlich traumatisierend war für Überlebende, aus ihrer Nachbarschaft wegziehen zu müssen, weil es keinen Wohnraum für sie gab. Sie fühlten sich als Bürger zweiter Klasse.
Diesen Monat kam erstmals Bewegung in die Sache. Der Minister für Wohnungsbau und Gemeinden, Michael Gove, räumte ein, dass man Fehler gemacht habe: Nach der Tragödie hätten sich Politiker dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass die Menschen Gehör finden, „und das haben wir nicht effektiv getan“. In naher Zukunft soll sich eine Behörde einschalten, wenn die Verbraucherrechte von Mietern nicht gewahrt werden. Die Regierung kündigte an, Verkleidungen, wie sie beim Grenfell-Tower verwendet wurden, Ende des Jahres zu verbieten – allerdings nur im Fall von Neubauten.
Am Jahrestag des Unglücks (Dienstag, 14 Juni) ist ein „Stiller Marsch” am Abend in der Nähe des Grenfell-Towers geplant. Mit dabei sein wird auch Samuels. „Dann hole ich mein Banner raus und ziehe meinen Kampagnen-Hut auf”, sagt sie. Für sie ist Engagement ihre Therapie. „Ich will mich nicht hängenlassen.“ Stattdessen lebe sie nach dem Motto: „Trauere um die Toten, aber kämpfe für die Lebenden.“
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