London. Die Planstadt Milton Keynes scheint in London noch unbeliebter zu sein als der Politiker Boris Johnson. Was zum Teufel wollt ihr Deutsche denn dort, fragen Londoner, die am Wochenende unweit vom Teamhotel der deutschen Frauen-Nationalteams gerne ans Ufer der Themse in Richmond strömen. Es folgt ein bemitleidenswertes Kopfschütteln und ein derbes Schimpfwort. Die einst am Reißbrett entworfene Retortenstadt ist tatsächlich frei von jeglichem Flair, aber das Stadium MK in der 230 000-Einwohner-City ist nun mal Schauplatz für das EM-Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich (Mittwoch 21 Uhr/live im ZDF).
Erschwerend kommt hinzu, dass ausgerechnet am Spieltag rund 40 000 Mitarbeiter der britischen Bahn in einen landesweiten Streik treten. Ohne die so tadellos pünktliche South Western Railway wird die Anreise für viele schwierig. Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg hat indes genug mit der sportlichen Herausforderung zu tun: „Es ist ein tougher Gegner.“ Gleichwohl haben die deutschen Frauen elf von 20 Länderspielen gegen Frankreich gewonnen – darunter alle vier EM- und WM-Duelle.
Eine tiefe Wunde riss bei den Französinnen vor allem die Viertelfinalniederlage im Elfmeterschießen bei der WM 2015 in Kanada. Damals ergötzte sich eine hochbegabte Generation an ihrer spielerischen Überlegenheit, vergaß aber auf dem Kunstrasen den Fangschuss. Diese Abschlussschwäche ist heute noch ein Kardinalproblem der Französinnen. Ohne ihre verletzte Torjägerin Marie-Antoinette Katoto (Kreuzbandriss) brauchte es im Viertelfinale gegen die Niederlande (1:0) die Verlängerung und einen per Videobeweis verhängten Strafstoß, um die Titelverteidigerinnen zu eliminieren. So geht „Les Bleues“ erneut ab, was das DFB-Team auszeichnet: Effizienz. Fürs deutsche Ensemble sind zudem zwei Tage mehr Erholungszeit ein klarer Vorteil, „das tut Kopf und Beinen gut“, sagte Mittelfeldspielerin Lina Magull nach einem ziemlich entspannten Wochenende mit viel Freizeit.
„Zu vielem in der Lage“
Dennoch ist der Respekt bei Voss-Tecklenburg groß. „Wir wissen, dass Frankreich eine enorme Qualität hat in den Umschaltmomenten, fantastische Einzelspielerinnen mit ganz viel Tempo“, beteuerte die 54-Jährige, wobei die DFB-Frauen mit viel Selbstvertrauen nach vorne schauen.
„Ich denke, wir haben gerade eine Weltklassemannschaft, die zu vielem in der Lage ist“, glaubt auch die bislang ohne Gegentor durchs Turnier gekommene Torhüterin Merle Frohms. Ihre weiße Weste sei „ein Zeichen an die anderen Mannschaften, dass es schon viel braucht, um gegen uns ein Tor zu schießen“.
Ans Finale am nächsten Sonntag aber will sie noch nicht denken: „Wir wissen, dass wir nicht zu früh von zu viel träumen dürfen“. Aber klar ist auch, dass der Abstecher nach Milton Keynes nur Zwischenstation sein soll, um in Wembley auf dem heiligen Rasen vorzuspielen.