Ins WM-Viertelfinale wollen die Deutschen kommen. Doch keiner weiß, wie gut sie sind. Noch nicht einmal die Mannschaft selbst. Die WM-Hoffnungen der DHB-Auswahl ruhen vor allem auf einem Mann: Bundestrainer Alfred Gislason.
Der deutsche WM-Kader
Tor: Andreas Wolff (KS Vive Kielce/Polen), Johannes Bitter (TVB Stuttgart), Silvio Heinevetter (MT Melsungen).
Linksaußen: Uwe Gensheimer (Rhein-Neckar Löwen), Marcel Schiller (Frisch Auf Göppingen).
Rückraum links: Julius Kühn (MT Melsungen), Paul Drux (Füchse Berlin), Fabian Böhm (TSV Hannover-Burgdorf), Luka Stutzke (Bergischer HC).
Rückraum Mitte: Philipp Weber (SC DHfK Leipzig), Juri Knorr (TSV GWD Minden), Marian Michalczik (Füchse Berlin).
Rückraum rechts: Kai Häfner (MT Melsungen), David Schmidt (Bergischer HC), Antonio Metzner (HC Erlangen).
Rechtsaußen: Tobias Reichmann (MT Melsungen), Timo Kastening (MT Melsungen),
Kreis: Moritz Preuss (SC Magdeburg), Johannes Golla (Flensburg), Sebastian Firnhaber (HC Erlangen).
Es hatte alles von einer vielversprechenden Vision. Als der Deutsche Handballbund (DHB) im Februar des vergangenen Jahres Alfred Gislason als neuen Bundestrainer präsentierte, schien das letzte Puzzleteil für eine erfolgreiche Nationalmannschaft gefunden zu sein. Oft war die DHB-Auswahl zuletzt nah dran an einer Medaille, sie wurde WM-Vierter und EM-Fünfter, verlor nach dem Geschmack der Bosse aber zu oft entscheidende Spiele, weshalb Bundestrainer Christian Prokop gehen musste. Gislason, ausgestattet mit einer beachtlichen Vita an Erfolgen und Erfahrungen in Extremsituationen, schien da die logische, richtige Wahl zu sein, um den kleinen – aber eben auch schwierigsten – letzten Schritt zu gehen.
„Situation hat ihren Reiz“
Doch dann kam Corona. Und die Pandemie veränderte alles. Das Leben, die Welt, die Menschheit – und entsprechend auch die Aufgabe von Gisalson. Aus einem großen Plan wurde eine gewaltige Ungewissheit, weil niemand weiß, weil niemand wissen kann, wie gut diese laut Kapitän Uwe Gensheimer „zusammengewürfelte Mannschaft“ ist. Auch die beiden ungefährdeten Siege in den EM-Qualifikationsspielen gegen Österreich taugen da nicht, um belastbare Rückschlüsse zu ziehen. Immerhin bekam man aber in den zwei Begegnungen eine ungefähre Ahnung davon, was diese Mannschaft kann (verteidigen), wie sie in Ägypten spielen möchte (schnell) und wo die Probleme liegen (Positionsangriff).
„Die Situation ist schwierig, aber sie hat ihren Reiz“, sagt Gislason mit Blick auf das fehlende Personal: Hendrik Pekeler, Patrick Wiencek, Finn Lemke und Steffen Weinhold verzichten freiwillig aus familiären Gründen. Oder besser gesagt: wegen Corona. Tim Suton, Franz Semper, Fabian Wiede und Jannik Kohlbacher sind verletzt. Sebastian Heymann möchte nach einigen gesundheitlichen Rückschlägen erst einmal wieder hundertprozentig fit werden. Macht in Summe neun – teils sehr prominente – Ausfälle, was in etwa so wäre, als wenn Fußball-Bundestrainer Joachim Löw nicht nur auf Joshua Kimmich, Toni Kroos, Ilkay Gündogan, Kai Havertz, Matthias Ginter und Emre Can verzichten müsste, sondern auch noch auf die Routiniers Mats Hummels, Thomas Müller und Jerome Boateng. Ach ne, das mit dem letztgenannten Trio hat er ja selbst erledigt.
Gislason hätte gerne einige der Routiniers dabei, aber spätestens mit Beginn der WM-Vorbereitung hat er im Gegensatz zu Torwart Andreas Wolff aufgehört, sich über die abwesenden Spieler Gedanken zu machen. „In mir überwiegt der Isländer. Ich habe gelernt, schnell auf andere Umstände zu reagieren und mich auf das zu fokussieren, was ich habe“, sagt der 61-Jährige. Während sich sein Keeper also zu einer bemerkenswert scharfen Schelte für die freiwillig Daheimgebliebenen hinreißen ließ, stürzte sich der Bundestrainer in die Arbeit. Probieren und puzzeln, tüfteln und trainieren – das ist die Welt des Isländers, der mit seiner Besessen- und Detailverliebtheit vom ersten Tag an die Mannschaft nicht nur hinter sich vereinte, sondern sie begeisterte. Die Spieler wissen, dass nicht alles funktionieren wird. Sie wissen aber auch, dass sie da einen Joker auf der Bank namens Gislason haben. Das verleiht ein gutes Gefühl, auf das es bisweilen häufiger ankommen kann als auf individuelle Klasse, weil sich auch mit Zusammenhalt viel entwickeln kann. „Alfred strahlt eine unglaubliche Sicherheit aus, gibt eine klare Struktur vor. Und mit Struktur bekommt man Vertrauen in sein System. Seine Routine gibt uns Selbstvertrauen“, sagt Rückraummann Fabian Böhm.
Auftakt am Freitag
Zum WM-Auftakt geht es am Freitag (18 Uhr) gegen den krassen Außenseiter Uruguay, am Sonntag (18 Uhr) folgt die Begegnung gegen Kap Verde. Auch der Fünfte der Afrikameisterschaft sollte kein großer Prüfstein für die Deutschen sein, die sich in den ersten beiden Turnierspielen weiter finden können. Wenn man so will, haben sie also zunächst zwei Tests. „Diese Begegnungen sollten wir möglichst souverän gewinnen. Denn bei deutlichen Siegen wächst man schneller zusammen“, sagt der wurfgewaltige Julius Kühn, der mit der DHB-Auswahl zum Vorrundenabschluss am 19. Januar auf die nicht zu unterschätzenden Ungarn trifft und sich auch für dieses Duell viel vorgenommen hat: „ Es ist unser Anspruch, sauber durch die Vorrunde zu kommen.“
Gelingt das, wäre der Weg ins anvisierte Viertelfinale zwar nicht frei, weil in der Hauptrunde dann immer noch starke und unangenehme Aufgaben warten, aber der Grundstein für den Einzug in die K.o.-Runde wäre gelegt. Und mehr darf man von dieser deutschen Mannschaft zum jetzigen Zeitpunkt nicht erwarten. Völlig unabhängig davon, dass Turniere eine gewisse Eigendynamik entwickeln können. Das wissen sie beim DHB, wenn man nur an den EM-Triumph 2016 denkt. „Wir sind Deutschland, wir sind gute Spieler, wir wollen erfolgreich sein“, sagt Böhm.
Der Bundestrainer wird die Worte mit Wohlwollen vernehmen – und entspannt in sein erstes Turnier mit der DHB-Auswahl gehen. Ein Vorrunden-Aus ist unmöglich, ein K.o. in der Hauptrunde wäre angesichts der Ausfälle kein Drama und mit einem Viertelfinale das realistische Maximum erreicht. Springt mehr heraus, werden alle jubeln. Vor allem Gislason. Im Sommer stehen die Olympischen Spiele an. Und über die Qual der Wahl hat sich noch kein Trainer der Welt beschwert.
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Marc Stevermüer zur Handball-WM in Ägypten Angst vor dem Super-GAU