Berlin. Mit Corona hatte Christian Baumeier gerechnet. Kurz bevor der 37-jährige Berliner vergangenen Oktober erkrankte, war bereits bei seiner Mutter eine Sars-CoV-2-Infektion festgestellt worden. Baumeier besuchte sie regelmäßig. Dann traf es auch ihn. Es folgten zehn Tage mit hohem Fieber, Geschmacksverlust und Atemnot. Ins Krankenhaus wollte Baumeier aber auf keinen Fall.
Nachdem er sich wegen einer Infektion mehrere Zehen amputieren lassen musste und in seinem Job als Zerspanungsmechaniker nicht mehr arbeiten konnte, war er frühverrentet und es durch die Folgen der Krankheit gewohnt, viel auszuhalten. Nach zwei Wochen klangen die Symptome ab. Womit Baumeier nicht gerechnet hatte: dass Corona in seinem Leben bleiben würde.
Als er einige Wochen später zwei Packungen Wasser in den dritten Stock tragen wollte, brach er auf der Treppe zusammen. Bis heute hat er Luftnot, Schweißausbrüche und wacht morgens oft mit Schnappatmung auf. Als er vor einer Salamipackung stand, fiel ihm das Wort nicht mehr ein: „Man fühlt sich richtig dement“, sagt er. Die ehrenamtliche Mitarbeit an einem Blog für die Berliner Eishockeymannschaft Eisbären hat er aufgegeben, weil es ihm schwerfiel, sich zu konzentrieren. „Mein normales Leben ist erst mal vorbei“, sagt er.
Long Covid heißt das Phänomen, mit dem Baumeier zu tun hat. Die Infektion ist vorbei, doch nun tauchen Langzeitschäden auf. Laut einer im März im Magazin „Nature“ erschienenen Studie des Londoner King’s College ist mehr als jeder zehnte Corona-Patient davon betroffen. Zu den häufigsten Symptomen zählen Müdigkeit, Erschöpfung, Atemnot und ein andauernder Verlust des Geruchssinns.
Angst- und Schlafstörungen
Eine weitere britische Studie, die im Fachblatt „The Lancet Pychiatry“ veröffentlicht wurde, ergab, dass bei etwa einem Drittel aller offiziell wieder Genesenen im ersten halben Jahr nach der Erkrankung neurologische oder psychische Langzeitschäden auftreten – am häufigsten Angststörungen (17 Prozent), Stimmungsschwankungen (14 Prozent) und Schlafstörungen (fünf Prozent). Auch das Risiko eines Schlaganfalls oder von Demenz erhöhte sich.
Den Berliner Unternehmensberater Thomas Dettmer (Name geändert) begleitet Covid-19 schon seit über einem halben Jahr. Im vergangenen Herbst hatte sich der 51-Jährige bei einer kleinen Familienfeier angesteckt, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen wie Selbstquarantäne und Anfahrt mit dem Auto. Dettmer erlebte Corona „klassisch, wie im Bilderbuch“: Kopfschmerzen, hohes Fieber, Schlappheit. An Tag elf nach Ansteckung verlor er binnen drei Stunden den Geruchs- und Geschmackssinn. Das Krankenhaus blieb ihm erspart, so nahm er die Erkrankung zunächst „sportlich“, wie er sagt. Heute sieht er das anders.
Noch immer hat er Konzentrations- und Wortfindungsprobleme, er schläft nicht gut. Das Schlimmste aber: „Von 100.000 Geschmacksrichtungen schmecke ich gerade mal 100. Dabei ist Essen so ziemlich das einzige Vergnügen, das in der Pandemie noch geblieben ist.“ Als Marathonläufer ist er es gewohnt, lange Strecken mental durchzuhalten. „Davon zehre ich jetzt“, sagt Dettmer, aber auch: „Ich bin ein anderer Mensch, seit ich Covid-19 habe.“
Als schwierig erwies es sich, ärztliche Hilfe zu finden. In der Charité wurde er zunächst abgewiesen, sein Fall sei „nicht schwer genug“. Er fand eine andere Anlaufstelle, in der Neurologie. Mit der behandelnden Ärztin prüft er nun, ob etwa Cortison die Genesung beschleunigt.
Oft leichter bis mittlerer Verlauf
Für Jördis Frommhold sind solche Berichte keine Überraschung. Die Chefärztin für Pneumologie an der Median-Reha-Klinik Heiligendamm (Mecklenburg-Vorpommern) hat bereits mehr als 600 Long-Covid-Patienten betreut. Sie schätzt den Anteil dieser Fälle bei Corona-Erkrankungen auf 20 bis 30 Prozent. Von ihnen werde es noch viel mehr geben. Frommhold fordert, Anlaufstellen für diese Patienten zu schaffen.
Die Medizinerin unterscheidet drei Gruppen von Covid-19-Erkrankten: Da sind jene, die leichte bis mittlere Verläufe hatten und wieder vollständig gesund sind. Zweitens gibt es Patienten mit schwerem Verlauf, die meist nur knapp überlebt haben. Oft leiden sie an „klassischen“ Post-Covid-Symptomen: Atmungsprobleme, neurologische Einschränkungen wie Taubheit in Armen und Beinen, aber auch psychosomatische Beschwerden durch die Nahtoderfahrung oder Traumatisierung durch die Intubation.
Frommholds Erfahrung ist aber: „Wenn es eine gute Nachsorge, etwa in einer Reha, gibt, haben wir sehr gute Therapieerfolge.“ Am meisten sorgt die Medizinerin deshalb die dritte Gruppe: die „kranken“ Genesenen, wie Frommhold sie nennt. Das sind oft jüngere bis mittelalte Menschen, die einen leichten bis mittleren Verlauf hatten, wieder gesund waren und erst ein bis vier Monate später teils massive Spätfolgen entwickelt haben: Erschöpfung, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Blutdruckprobleme, Herzrasen, Haarausfall.
Die jüngste Patientin, die Frommhold in dieser Kategorie betreute, war 18 Jahre alt und hatte keine Vorerkrankungen, die meisten sind zwischen 20 und 50. Einige sind arbeitsunfähig. „Für dieses Krankheitsbild gibt es bislang noch kaum gesellschaftliche Akzeptanz“, warnt Frommhold. „Die Patienten werden häufig nicht ernst genommen, weil sie ja scheinbar schon gesund waren.“