Madrid. Die katalanische Krise spitzt sich Tag für Tag weiter zu. Die spanische Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy hat an diesem Samstag beschlossen, den Senat um die Absetzung sämtlicher Minister der katalanischen Regionalregierung zu bitten, um deren Aufgaben durch "von der [spanischen] Regierung geschaffene oder beauftragte Organe oder Behörden" erledigen zu lassen. Es ist die Ankündigung einer vollständigen Entmachtung der Regionalregierung Kataloniens unter ihrem Ministerpräsidenten Carles Puigdemont. Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der spanischen Demokratie nach dem Ende der Franco-Diktatur 1975.
Wunsch nach mehr Eigenständigkeit
In vielen europäischen Staaten gibt es ebenfalls Autonomiebestrebungen. Ein Überblick:
Italien: Nach Meinung der reichen Regionen Venetien und Lombardei in Norditalien verschlingt die Zentralregierung in Rom viel zu viel Geld. Sie wollen daher, dass die erwirtschafteten Steuern auch in ihrer Region bleiben. Daher durften gestern rund zehn Millionen Menschen in Referenden darüber abstimmen, ob ihre Regionen mehr Kompetenzen und Autonomie bekommen. Ein Ergebnis lag bis Redaktionsschluss noch nicht vor.
Großbritannien: Die Nationalpartei (SNP) der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon hat das Thema Unabhängigkeit Schottlands nach der Wahlschlappe im Juni zurückgestellt, aber nicht aufgegeben. 2014 hatten die Schotten sich in einem von London akzeptierten Referendum gegen eine Unabhängigkeit entschieden.
Frankreich: Seit Jahrzehnten streben viele Korsen nach mehr Eigenständigkeit von Frankreich; Separatisten verübten Anschläge auf Behördengebäude oder Ferienhäuser von Festlandfranzosen. 2014 legte die Korsische Nationale Befreiungsfront FLNC allerdings die Waffen nieder.
Belgien: Die flämischen Nationalisten streben ein "völlig unabhängiges Flandern" als Fernziel an. Migrationsminister Theo Francken von der nationalistischen N-VA, die seit 2014 in der belgischen Föderalregierung sitzt, sieht die Katalanen als Vorbild. dpa
Eine Frage beherrschte gestern die Debatten in Spanien: Gibt es noch einen Ausweg aus der Krise? Puigdemont hatte in der vergangenen Woche eine doppelte Frist Rajoys verstreichen lassen, um einerseits klarzustellen, ob er am 10. Oktober vor dem Regionalparlament die Unabhängigkeit Kataloniens ausgerufen hatte, und um diese Erklärung gegebenenfalls zurückzunehmen. Beides verweigerte Puigdemont.
Doch er hätte immer noch Zeit, im letzten Moment einen Rückzieher zu machen. Der Senat, die zweite Kammer des spanischen Parlaments, wird voraussichtlich erst am kommenden Freitag über den Antrag der Rajoy-Regierung auf Absetzung Puigdemonts und seiner Minister entscheiden.
Plenarsitzung anberaumt
Rajoys konservative Volkspartei (PP) hat im Senat die Mehrheit und wird dessen Begehren höchstwahrscheinlich zustimmen. Wenn in der Zwischenzeit nicht noch Entscheidendes geschieht. Die Chancen dafür stehen nicht gut. Der einzige gangbare Ausweg nach jetzigem Stand der Dinge wäre die baldige Anberaumung von Neuwahlen in Katalonien. So könnte Puigdemont seiner Entmachtung durch Selbstentmachtung zuvorkommen. Doch sein Regierungssprecher Jordi Turull stellte gestern Vormittag in einem Radiointerview klar: "Die Ansetzung von Wahlen liegt zurzeit nicht auf dem Tisch." Puigdemont hatte stattdessen in einer Ansprache am Samstagabend das Präsidium des Regionalparlaments gebeten, eine Plenarsitzung anzuberaumen.
Worüber das Regionalparlament debattieren werde, erklärte Turull gestern: "das Mandat vom 1. Oktober" zu erfüllen. Nach Ansicht der Puigdemont-Regierung hatte sich "das katalanische Volk" beim Referendum am 1. Oktober klar für die staatliche Unabhängigkeit Kataloniens ausgesprochen. Die separatistische Mehrheit des Regionalparlaments könnte also demnächst formell die katalanische Republik ausrufen, was es bisher noch nicht getan hat. Es wäre eine weitere Herausforderung für die spanische Regierung.
Den Machtkampf mit Rajoy kann Puigdemont wahrscheinlich nicht gewinnen. Ihm fehlt die internationale Unterstützung. Die wichtigsten europäischen Partner haben sich bisher klar auf die Seite der spanischen Regierung und der verfassungsmäßigen Ordnung gestellt. Außerdem dreht Madrid den Separatisten langsam den Geldhahn zu. Die Rajoy-Regierung hatte schon Mitte September beschlossen, die finanzielle Autonomie Kataloniens einzuschränken, "nicht komplett, aber erheblich", in den Worten von Finanzminister Cristóbal Montoro.
Protestmarsch durch Barcelona
Mit der absehbaren Entmachtung der Puigdemont-Regierung Ende dieser Woche übernähme Montoro die vollständige Kontrolle über die katalanischen Finanzen. Die katalanische Gesellschaft ist in Sachen Unabhängigkeit weiterhin gespalten. Am Samstag demonstrierten in Barcelona nach Schätzung der lokalen Polizei rund 450 000 Menschen gegen die Verhaftung zweier Separatistenführer am vergangenen Montag und gegen die anstehende Absetzung der Regionalregierung.
Die Stimmung war deutlich gereizter als bei früheren Protestmärschen. Die Unabhängigkeitsgegner blieben diesmal zuhause. Eine ihrer bekanntesten Vertreterinnen, die Filmregisseurin Isabel Coixet, sagte im Gespräch mit der Zeitung "El País": "Mir geht oft durch den Kopf, Katalonien zu verlassen." Das einzige was sie davon abhalte, sei die Befriedigung, die ihr Weggang "einigen" verschaffen würde. Die gönnt sie niemandem.