Mannheim. Für Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen sind die Schulschließungen fatal. Und auch im Wissen wirft es diese Kinder zurück. „Jeder Unterricht, der nicht stattfindet, wirkt sich negativ aus“, sagt die Heidelberger Bildungsforscherin Anne Sliwka.
Bildungsexpertin
Anne Sliwka ist Professorin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg.
Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist Schul- und Schulsystementwicklung in international vergleichender Perspektive.
Sie hat Schulen in vielen Ländern kennengelernt und ist besonders beeindruckt von den Bildungssystemen in Kanada, Estland, Singapur und Neuseeland. sba
Frau Sliwka, in Sachen Digitalisierung hinkt das deutsche Bildungssystem hinterher, seit Jahren schon, und eigentlich weiß das jeder. Wie aber kann das sein?
Anne Sliwka: Das Hauptproblem ist ein Verantwortungskuddelmuddel, das der Organisation unseres Schulsystems geschuldet ist. Die Schulträger, die Kommunen, sind für die materielle Ausstattung zuständig, die Bundesländer verantworten die Bildungsinhalte und sind Arbeitgeber der Lehrkräfte, und der Bund stellt die Gelder für die Digitalisierung zur Verfügung, weil Kommunen und Länder gesagt haben, dass sie das in großem Stil nicht finanzieren können. Die Verzahnung der Arbeits- und Planungsprozesse dieser drei Ebenen funktioniert aber nicht gut.
Immerhin wurden über den „DigialPakt Schule“ Mittel bereitgestellt. Trotzdem fehlt es in der einen Schule an Laptops, in der anderen an einer stabilen Internetverbindung, in fast allen Schulen an Fachleuten, die die Systeme betreuen.
Sliwka: Dass wir keine IT-Administratoren an den Schulen haben, so wie sie in Unternehmen selbstverständlich sind, liegt genau an diesen ungeklärten Verantwortlichkeiten. Die Kommunen haben gesagt, das ist nicht unsere Baustelle, Personal zu finanzieren, wir finanzieren ja schon die Gebäude und die Ausstattung der Gebäude. Und die Bundesländer haben gesagt, wir finanzieren ja schon die Stellen der Lehrkräfte, es ist nicht unsere Aufgabe, jetzt auch noch IT-Kräfte zu finanzieren. So wurde der Schwarze Peter über die Jahre hin- und hergeschoben, und das Ergebnis sehen wir jetzt.
Wobei es auch guten Fernlernunterricht gebe, sagen Eltern, das hänge aber stark vom Engagement der Lehrperson ab.
Sliwka: Ich betreibe grundsätzlich kein Lehrerbashing. Es gibt viele Lehrkräfte, die sich mit unglaublicher Energie und einer steilen Lehrkurve allein, teilweise auch gemeinsam mit anderen der Herausforderung gestellt haben. Es gibt aber eben auch die anderen in der Profession.
Was ist mit denen?
Sliwka: Die reagieren zu schwerfällig auf die aktuellen Herausforderungen. Dafür tragen sie einen Teil der Verantwortung, aber das System hat sie auch nicht wirklich gut aufgestellt. In vielen Schulsystemen auf der Welt ist es seit Jahren selbstverständlich, dass zum Lehrerarbeitsplatz ein Laptop gehört. Hierzulande müssen viele Lehrkräfte ihre privaten Geräte nutzen.
Statt der Lehrer stehen nun die Eltern hinter den Kindern und mahnen und drängen. Kann das gut gehen?
Sliwka: Nein! Das ist eine massive Überforderungssituation. Ganz viele Eltern sind aktuell am Limit. Entweder die Lehrkräfte erwarten, dass die Eltern zu Hause eine Art Unterrichtssituation gewährleisten und auf Termine achten „Um 10.30 Uhr beginnt die Videokonferenz“. Andere hören ganz wenig von der Schule und müssen selbst sehen, wie sie die Zeit strukturieren. Das ist kein normaler Zustand, und wir können von Eltern nicht erwarten, dass sie das auffangen.
Was raten Sie verzweifelten Eltern?
Sliwka: Nicht auf Teufel komm raus zu versuchen, Bildungs- und Lernziele zu erreichen. Die Eltern stehen so unter Druck, dass ich denke, dass die Beziehungsqualität, also eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kindern, das bessere Investment ist.
Aber wenn es dann weitergeht, stehen Arbeiten an, bald dann auch wieder Zeugnisse …
Sliwka: Ganz wichtig wäre es, gerade jetzt nicht in alten Noten-Logiken zu denken. Das fände ich fatal. Zumal die Forschungslage schon länger darauf hinweist, dass Noten wenig aussagefähig sind. Was die Schülerinnen und Schüler brauchen, sobald die Schule wieder losgeht, ist eine differenzierte Rückmeldung, wo sie stehen, was sie können, was sie noch nicht können, und die sie auch motiviert, in dieser schwierigen Situation weiter zu lernen.
Viele Kinder und Jugendliche vermissen die Schule. Warum ist Schule als physischer Ort so wichtig?
Sliwka: Weil es viele Kinder gibt, deren Eltern nicht oder nur selten zu Hause sind, die keine Geschwister haben, die keine Freunde haben, weil sie vielleicht noch nicht so lange an einem bestimmten Ort wohnen, die Gewalt in ihren Familien erleben, die ignoriert werden. Für die ist die Schule ein sozialer Ort, ein Ort, an dem sie emotional aufgefangen werden und wo sie eine Struktur erleben.
Schon vor Pisa gab es in Deutschland eine Bildungskluft. Wird sich die vertiefen? Werden es Kinder aus sogenannten bildungsfernen Schichten noch schwerer haben?
Sliwka: Das ist ganz sicher so. Jeder Unterricht, der nicht stattfindet, wirkt sich negativ aus. Alles, was jetzt an Lernprozessen nicht stattfindet, wirft diese Kinder zurück.