Nordsyrien - Mainzer Arzt Gerhard Trabert schildert Folgen des wegen der Kämpfe zusammengebrochenen Gesundheitssystems

„Die Kinder werden sterben“

Von 
Marco Pecht
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Ein Arzt und medizinisches Fachpersonal arbeiteten noch bis vor Kurzem in der Diabetes-Ambulanz in Kobane. Jetzt ist sie geschlossen. © Trabert

Mannheim. Die Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien hat Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung der dortigen Zivilbevölkerung. Der Mainzer Mediziner Gerhard Trabert unterstützte bis zum Ausbruch der Kämpfe Ärzte in Kobane. Im Interview zeichnet er ein dramatisches Bild der humanitären Situation.

Gerhard Trabert wurde 1956 in Mainz geboren. Er ist Arzt für ...

  • Gerhard Trabert wurde 1956 in Mainz geboren. Er ist Arzt für Allgemeinmedizin/Notfallmedizin und hat einen Lehrstuhl für Sozialmedizin inne.
  • In Mainz versorgt er mit Kollegen Obdachlose medizinisch.
  • Immer wieder arbeitete Trabert als Arzt in Krisengebieten im Ausland, so etwa in Bangladesch, dem Irak, dem Libanon oder Syrien

Herr Trabert, wie häufig waren Sie in der Vergangenheit in Nordsyrien, dort, wo derzeit die türkische Militäroffensive läuft?

Gerhard Trabert: Ich war in den vergangenen zwei Jahren sechs Mal dort und vor vier Wochen zuletzt.

Welchen Eindruck von der Infrastruktur, auch dem Gesundheitswesen, hatten Sie vor dem Einmarsch der Türkei in das Kurdengebiet?

Trabert: Es ging dort nach dem Bürgerkrieg und den Kämpfen mit der Terrormiliz Islamischer Staat immer mehr bergauf. Unser Verein „Armut und Gesundheit“ hat in der einst heftig umkämpften Stadt Kobane ein Gesundheitsprojekt aufgebaut, eine spezielle Ambulanz für Diabetiker. Dafür haben wir einen Arzt und medizinisches Fachpersonal angestellt. Es gab auch vor der Eskalation durch den türkischen Präsidenten Engpässe, etwa wegen fehlender Medikamente. Dennoch: Es hatte sich jüngst eine relativ gute medizinische Grundversorgung der Zivilbevölkerung etabliert. Zudem: Die Kurden hatten eine demokratische und friedliche Gesellschaft aufgebaut.

Und seit dem Beginn der türkischen Offensive in der vergangenen Woche?

Trabert: Das ist jetzt natürlich alles zerstört. Ich bekomme gerade Mails, in denen steht, dass in Nordsyrien 90 Prozent der Krankenhäuser wegen des Krieges geschlossen wurden.

Die Patienten sind völlig auf sich alleine gestellt?

Trabert: Genau, es gibt keine öffentliche Gesundheitsversorgung mehr. Schon während des syrischen Bürgerkriegs sind Hunderttausende Menschen an mangelnder medizinischer Versorgung gestorben – das geht jetzt einfach wieder weiter.

Wir reden über Syrien, ein einst hoch entwickeltes Land.

Trabert: Völlig richtig. Die Medizin dort war auf einem sehr hohen Stand. Erst der IS hat die Kliniken systematisch besetzt und auch die Gerätschaften zerstört. Es gab zuvor eine gute Versorgung und jetzt waren die Kurden wieder auf dem Weg dorthin.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Trabert: Es gibt in dieser Region einen seltenen Gendefekt, die Mittelmeeranämie, von der rund 8000 Kinder betroffen sind. Diese benötigen Bluttransfusionen und ein spezielles Medikament. Sonst sterben diese Kinder. Die Kurden hatten die Versorgung gerade aufgebaut. Jetzt ist die Blutzufuhr vernichtet, weil das Blut für die Verwundeten an der Front benötigt wird. Das bedeutet: Die Kinder werden über kurz oder lang sterben. Frauenärzte berichten mir zudem, dass sich die Rate der Fehlgeburten verdoppelt hat, weil die Frauen wegen des Krieges extrem unter Stress stehen. Das war schon währen der IS-Besetzung so.

Was ist aus Ihrer Diabetes-Ambulanz geworden?

Trabert: Ich habe den Mitarbeitern in Kobane gesagt, dass sie die Arbeit einstellen und sich in Sicherheit bringen sollen. Wir können nicht verantworten, dass sie dort weiter arbeiten. Das Projekt ist jetzt auch dahin. In der ganzen Region fehlt es ja an Medikamenten, Nahrung und Strom. Das ist einfach eine Katastrophe. Aus den Flüchtlingslagern etwa sind alle medizinischen Kräfte abgezogen, weil sie an der Front verletzten Kämpfern helfen.

Wie viele Menschen leiden im Moment unter der mangelnden medizinischen Versorgung?

Trabert: Ich habe über den kurdischen Halbmond gehört, dass 270 000 Menschen auf der Flucht sind, 70 000 davon Kinder. Es soll hunderte Tote und Verletzte geben. In dieser Region leben 4,5 Millionen Menschen plus die 1,5 Millionen Geflüchteter.

Das Interview wurde telefonisch geführt und von Gerhard Trabert autorisiert.

Redaktion Nachrichtenchef

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