Geschichte - Die Nationalsozialisten ermordeten im Krankenhaus bei Wiesbaden mehr als 700 Menschen / Viele anonym verscharrt

Streit um Opfer vom Kalmenhof

Von 
Andrea Löbbecke
Lesedauer: 
Eine Bronzetafel auf dem Soldatenfriedhof von Idstein erinnert an die Opfer des Kalmenhofs. © dpa

Idstein. Sie wurden mit Morphium-Spritzen getötet oder verhungern gelassen. Die Nationalsozialisten ermordeten zwischen 1939 und 1945 mehr als 700 Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Kalmenhof in Idstein nördlich von Wiesbaden, sagt der Frankfurter Kulturwissenschaftler Christoph Schneider. Viele der Opfer wurden auf einem Acker hinter dem Krankenhaus verscharrt, das Gebäude war der Haupttatort. Seit Ende der 1980er-Jahre soll ein gemauertes Rondell neben einem etwa 250 Quadratmeter großen Gräberfeld an die Opfer des organisierten Massenmordes an seelisch leidenden, körperlich oder geistig behinderten Menschen erinnern.

Klinik als Tötungsstation

Während der nationalsozialistischen Herrschaft wurden aus ganz Deutschland behinderte oder psychisch kranke Kinder, Jugendliche und Erwachsene zum Kalmenhof und von dort zunächst meist zur Tötungsanstalt Hadamar deportiert.

Von spätestens 1941 geschieht das Morden überwiegend direkt vor Ort im Krankenhaus des Kalmenhofes.

Das Gebäude steht seit 2007 leer. Ein Versuch von Vitos, das Haus zu verkaufen, stieß auf öffentliche Kritik und wurde gestoppt. In der Folge wurden das Gutachten und geologische Untersuchungen angestoßen. lhe

Ein Gutachten von Schneider und geologische Untersuchungen im Jahr 2019 haben aber gezeigt, dass es sehr wahrscheinlich weitere Gräberfelder auf angrenzenden Grundstücken gibt. Diese Grundstücke befinden sich jedoch in Privatbesitz. Der Kalmenhof-Träger Vitos, eine Tochtergesellschaft des Landeswohlfahrtsverbandes (LWV), hat dem Vernehmen nach zuletzt vor wenigen Jahren eine Parzelle verkauft.

Vitos betreibt in Idstein Einrichtungen der Behinderten- und Jugendhilfe. Das weitläufige Kalmenhof-Gelände mit Verwaltungs-, Werkstatt- und Wohngebäuden liegt direkt neben der historischen Altstadt. In dem Taunusort läuft seit Jahren eine Diskussion darüber, wie mit dem ehemaligen Kalmenhof-Krankenhaus und dem Areal angemessen umgegangen werden sollte. Mit Blick auf den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar ist die Debatte nach wie vor aktuell.

Weitere Gräberfelder

„Die Opfer der NS-Krankenmorde liegen heute, 75 Jahre nach der Befreiung, immer noch anonym, ohne Namensnennung und ohne Beachtung der Gräber an unbekannter Stelle wie es dem Willen der Täterinnen und Täter entsprach“, sagt die Historikerin Martina Hartmann-Menz. Sie hat mit anderen Bürgern den Verein Gedenkort-Kalmenhof gegründet. Die Ermordeten vom Kalmenhof würden wie „Opfer dritter Klasse“ behandelt, die strengen Vorgaben des Gräbergesetzes nicht eingehalten. Der Soldatenfriedhof in Idstein dagegen sei in einem würdigen Zustand, für jeden Toten gebe es dort eine Grabplakette.

Das Bundesgräbergesetz soll sicherstellen, dass Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft in besonderer Weise gedacht wird. Das Gesetz gilt auch für gefallene Soldaten. Demnach muss jedes Grab „eine würdige Ruhestätte“ sein, die Begräbnisstätten bleiben dauerhaft bestehen.

In Hessen liegen auf verschiedenen Gräberfeldern mehr als 10 600 Opfer des vom NS-Regime auch als „Euthanasie“ bezeichneten Vernichtungsprogramms begraben, darunter 353 am Kalmenhof. Dies geht aus einer Antwort des Innenministeriums auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion im Landtag hervor. Nach Einschätzung des Ministeriums findet in Bezug auf das Gräbergesetz keine Ungleichbehandlung der Opfergruppen statt.

Was die möglichen weiteren Gräberfelder in Idstein angeht, müssen laut Vitos Rheingau die Ergebnisse der geologischen Untersuchungen weiter ausgewertet werden. „Für den Fall, dass die Angrabungen den Verdacht bestätigen, dass es sich um Grabanlagen handelt, liegt die Zustimmung für Umbettungen von den zuständigen Behörden vor“, teilt Geschäftsführer Sevet Dag mit.

Unter anderem mit der Kriegsgräberfürsorge werde erörtert, wie auf inhaltlich und finanziell tragfähiger Basis ein würdiges Gedenken und eine soziale Nutzung „nachhaltig in Einklang gebracht werden kann“, so Dag. Eine „Zukunftswerkstatt“ habe wertvolle Vorschläge für das Kalmenhof-Krankenhaus erbracht, auf deren Basis bis zu den Sommerferien ein konkreter Vorschlag erarbeitet werden soll.

Hartmann-Menz fordert eine Zuordnung und namentliche Nennung aller Toten. Das ehemalige Krankenhaus und die Leichenhalle seien in einem beklagenswerten Zustand. Nach den Vorstellungen des Vereins Gedenkort-Kalmenhof sollte aus dem Haus ein „Lernort und Dokumentationszentrum“ sowie eine Anlaufstelle für Angehörige werden. lhe