Mannheim/Stuttgart. Grünen-Regierungschef Winfried Kretschmann sah die nächtliche Ausgangssperre als wichtigen Baustein seiner strikten Corona-Strategie. „Dass sie erfolgreich war, zeigt der Spitzenplatz im Ländervergleich, den wir seit einer Woche belegen“, sagt sein Sprecher Rudi Hoogvliet. Die Regierung hat sich zu lange an den Erfolg geklammert. Am Montag hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg das Handeln übernommen und die Ausgangssperre gekippt. Sie habe den gesetzlichen Vorgaben „zuletzt nicht mehr entsprochen“, so die Mannheimer Richter. Ab Donnerstag wird sie aufgehoben.
Der Kurswechsel in der Regierungszentrale kommt schnell. Nur wenige Stunden nach der Gerichtsentscheidung kündigt Regierungssprecher Rudi Hoogvliet an, künftig werde es Ausgangssperren nur noch auf Ebene der Landkreise geben. Das habe man angesichts sinkender Infektionszahlen ohnehin vorgehabt. Man sei bereits mit dem Nachbarland Bayern im Gespräch, um ein abgestimmtes Vorgehen zu erreichen. Ob die dortige Ausgangssperre nun auch fällt, war zunächst offen.
Kretschmann hatte bereits vor gut einer Woche eine Lockerung angekündigt, wenn die Inzidenz 50 Ansteckungen je 100 000 Einwohner in sieben Tagen erreicht. Am Sonntag lag der Wert bei 60,4. Ab welchem Wert künftig Hotspot-Kreise nächtliche Bewegungsbeschränkungen erlassen können, ist noch offen. Hoogvliet sagte: „Jetzt haben wir juristische Klarheit.“
Regionale Hotspots
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung den Weg in Richtung Regionalisierung gewiesen. Als Mitte Dezember die landesweite Schutzmaßnahme erlassen wurde, lagen die Fallzahlen in Baden-Württemberg fast bei 200. Kein Landkreis sei unter 100 gewesen. Vor diesem Hintergrund seien Eilanträge zur Aufhebung der Ausgangssperre Ende Dezember und Mitte Januar abgelehnt worden. „Das Pandemiegeschehen hat sich seither im beachtlichen Umfang geändert“, begründen die Richter ihren Schwenk. Bis vergangenen Donnerstag, dem Stichtag für das Urteil, sei die landesweite Inzidenz auf 63,5 gefallen, 13 Stadt- und Landkreise lagen schon unter der Marke von 50. Das Geschehen stelle sich „bei insgesamt fallenden Zahlen regional erheblich differenzierter dar“.
Für den SPD-Abgeordneten Boris Weirauch war die juristische Schlappe absehbar. „Es war zu erwarten, dass der Verwaltungsgerichtshof Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) bei den Ausgangssperren in die Schranken weist“, erklärte der Mannheimer Sozialdemokrat. Er habe den Minister schon vor zwei Wochen gewarnt, dass angesichts der sinkenden Zahlen eine fundierte rechtliche Grundlage fehle. Grundrechte seien keine Almosen.
Weirauch bedauerte, nicht nur Lucha habe den Schaden: „Beschädigt hat er zum wiederholten Mal auch das Vertrauen in die Corona-Politik der grün-schwarzen Landesregierung. Das ist Wasser auf die Mühlen der Populisten.“ Einmal mehr zeige sich, dass der Sozialminister den Herausforderungen der Pandemie nicht gewachsen sei.
„Diesen Gerichtsbeschluss begrüße ich sehr“, erklärte FDP-Landtagsfraktionschef Hans-Ulrich Rülke. Seine Fraktion habe die Aufhebung der Ausgangssperre bereits erfolglos im Landtag beantragt, nun habe das Gericht die Sache entschieden. Man könne nicht mit der Begründung eines Inzidenzwerts von 200 solche Beschränkungen beschließen und diese bei 60 immer noch aufrecht erhalten.
Dagegen bedauerte Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) die Entscheidung. „Vor dem Hintergrund der heruntergehenden Zahlen ist sowas immer zu befürchten gewesen.“ Das werde aber nicht dazu beitragen, dass die Zahlen weiter sinken.
Vor Gericht hatte das Land die Ausgangssperre verteidigt mit dem Hinweis, eine „verfrühte“ Aufhebung der Ausgangsbeschränkung berge die Gefahr eines weiteren exponentiellen Wachstums. Für die Richter war das zu „pauschal und undifferenziert“.