Mannheim. Was passiert eigentlich mit den Chören, die in den vergangenen Monaten kaum Gelegenheit hatten zu proben? Wie werden die entstandenen Lernlücken aufgefüllt, wie soziale Ungleichheiten ausgeglichen? Wer unterstützt den Einzelhandel, der in der Coronakrise besonders gelitten hat? Mannheimer Bürgerinnen und Bürger haben Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) gefragt – hier sind seine Antworten.
Danae Michalopoulou und Rouven Gruber
Schülerin am Ludwig-Frank-Gymnasium, Schüler der IGM Herzogenried
Wie stellen Sie sich die zukünftige Digitalisierung in Schulen vor? Was für Schritte will die Landesregierung hier unternehmen (Moderne Anwender- Plattformen, Applikationen für mobile Geräte, aber auch Aufbau einer Struktur zur Gestaltung komplementärer Unterrichtsformen sowie IT-Betreuer)?
Winfried Kretschmann: Wir sind zugegebenermaßen hinten dran, was die Digitalisierung angeht. Die Pandemie hat da wie ein Katalysator gewirkt, wir haben viel gelernt, das müssen wir jetzt nutzen. Das ist auch einer der Gründe, weshalb das Kultusministerium neuerdings zwei Staatssekretärinnen hat. Sandra Boser wird ausschließlich für den Ausbau der Digitalisierung in den Schulen zuständig sein und sich hinter das Thema klemmen. Aus dem Digitalpakt Schule stehen im Zeitraum 2019 bis 2024 für Baden-Württemberg rund 650 Millionen Euro zur Verfügung. Dazu kommen Zusatz-Programme für die digitale Administration und für Leihgeräte für Lehrer und Schüler. Bei Letzterem haben wir die Bundesmittel auf 130 Millionen Euro verdoppelt. Wir haben außerdem als Land nochmals 40 Millionen Euro als schulbezogene Budgets zur Verfügung gestellt. Bei der Ausstattung ist also viel passiert. Aus meiner Sicht muss der Fokus jetzt vor allem auf der digitalen Pädagogik liegen. Denn man muss die Tablets ja auch sinnvoll einsetzen, damit es einen echten Mehrwert im Unterricht hat.
Wolfgang Blatt
Inhaber des Mannheimer Spielwarenladens Urmel
Ich musste vor Weihnachten meinen Spielwarenladen in der Mannheimer Innenstadt schließen, während Drogerie- und Supermärkte munter weiter Spielsachen verkaufen durften. Warum waren die Lockdown-Vorgaben für den Handel so unausgewogen und bürokratisch? Und was wollen Sie im Fall weiterer Schließungen oder Einschränkungen tun, damit es für uns Einzelhändler gerechter wird?
Winfried Kretschmann: Es ging ja darum, dass wir Kontakte vermeiden. Drogerie- und Supermärkte hatten geöffnet, weil sie den persönlichen Bedarf decken. Wir hätten dann sagen müssen, sie dürfen nur bestimmte Dinge verkaufen, wir hätten eine Liste machen müssen, aber dann wird es ja noch bürokratischer. Man kommt bei solch einer Entscheidung um bestimmte Dinge, die dann anderen ungerecht erscheinen, schlichtweg nicht herum. Da treten immer Widersprüche auf, die sind nur schwer behebbar. Im Ergebnis, wenn ich allen Einwänden, die ich natürlich verstehe, nachgegangen wäre, hätte ich alles öffnen müssen.
Heike Kiefner-Jesatk
Chorleiterin Konkordien-Kantorei und Lehrkraft an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
Als Chorleiterin, die in Mannheim eine evangelische Kantorei und in Heidelberg zwei studentische Chöre leitet, mache ich mir Sorgen um die Zukunft der deutschen Chorlandschaft. Nur wer das nötige Know-how, technisches Equipment und entsprechendes Internet hatte, war in der Lage, die Proben digital anbieten zu können. Um mich herum erlebe ich, dass Chöre nicht mehr singfähig sind oder ganz auseinanderfallen – sowohl kirchliche Ensembles als auch freie Chöre und viele Kinder-/und Jugendchöre. Gibt es Ideen Ihrer Regierung, wie Sie der angeschlagenen Chorszene unter die Arme greifen wollen?
Winfried Kretschmann: Wir haben viele Hilfsprogramme aufgelegt, auch für Vereine und Chöre. Letztlich können wir aber nichts anderes tun, als mit dem Singen wieder anzufangen. Das hört sich banal an, aber ich wüsste nicht, was wir anderes tun können. Das Virus verursacht viele Schäden, jedweder Art, das ist ja das Drama daran. Darum ist es gefährlich, darum müssen wir alles tun, damit wir es in den Griff bekommen. Wie schwierig das ist, sieht man ja. Es ist jetzt weit über ein Jahr, und wir plagen uns mit immer neuen Virus-Varianten. Das ist keine Schuld der Politik, das ist allen klar, und wir können nur versuchen, wieder zu einem normalen Leben zurückzufinden und die Kreativität aufzubringen, um diese Schäden zu beheben.
Thorsten Papendick
Vorsitzender des Gesamtelternbeirats Mannheim
Mit welchen konkreten Maßnahmen werden Sie und Ihre Ministerien mittelfristig verhindern, dass insbesondere Schüler aus bildungsfernen Familien oder Schüler mit Teilleistungsschwächen abgehängt werden und die Bildungsschere sich weiter vergrößert?
Winfried Kretschmann: Wir haben ein Lernlückenprogramm aufgelegt, um Schülern jetzt kurzfristig bis zu den Sommerferien unter die Arme zu greifen. Da gehen Studierende an die Schulen und unterstützen. Dann gibt es mit den Sommerschulen ein freiwilliges Nachhilfeprogramm in den Ferien, und nach den Ferien kommt das gemeinsame Bund-Länder-Programm „Rückenwind“ als weiterer Baustein dazu. Das wird uns das ganze nächste Schuljahr begleiten. Denn die entstandenen Lücken – auch auf emotionaler Seite – lassen sich ja nicht von heute auf morgen beheben. Da haben wir jetzt einen Prozess vor uns. Insgesamt kann man das Auseinanderdriften aber nur durch Qualität in den Schulen verhindern. Es gibt kein anderes Mittel, und daran wird die Regierung fortwährend arbeiten.
Sabine Füllgraf-Horst
Fachärztin für Allgemeinmedizin, Gemeinschaftspraxis am Lanzgarten
Bleiben die Impfzentren für die dritte Coronaimpfung, so denn erforderlich, im Herbst geöffnet? In den Hausarztpraxen haben wir dann nämlich das Problem, dass gleichzeitig auch die Grippeimpfungen anlaufen sollen.
Winfried Kretschmann: Die Kreisimpfzentren sind erst einmal bis zum 30. September verlängert worden. Wir wollen aber schrittweise stärker in die Regelversorgung gehen. Wir müssen das mit den niedergelassenen Ärzten besprechen, die sich einerseits häufig wünschen, dass sie mehr Impfstoff erhalten, aber andererseits jetzt gesehen haben, dass das ein Riesenaufwand ist. Auch ob Wiederholungsimpfungen im Herbst notwendig sein werden, müssen wir abwarten. Wir müssen auf Sicht fahren. Das ist ein Virus, das sehr stark mutiert, was da noch auf uns zukommt, wissen wir nicht. Daran merkt man auch: Wir operieren hier immer mit mangelhaftem Wissen, in vielen Fällen gibt es Hinweise, manches ist plausibel, aber ein klares, belastbares Wissen, das haben wir oft nicht genügend, zumindest nicht in der Eindeutigkeit, wie man das gerne als Politiker hätte.
Ilka Sobottke
Pfarrerin, CityGemeinde Hafen-Konkordien
Ich wünsche mir sehr, dass wir beim Öffnen die nicht vergessen, die unter der langen, schwierigen Zeit am meisten zu leiden hatten, und ihnen Gutes tun: den Familien und Alleinerziehenden. Mir fallen Dinge ein, die mögen wenig wichtig erscheinen, aber sie haben meines Erachtens mehr als Symbolcharakter: Ein Schwimmbad tageweise für eine Schulklasse oder ganze Schule öffnen, so dass Kinder mit ihren Freunden zusammen sein dürfen, oder Gleiches mit Kinos, Kletterwänden und anderen Sportmöglichkeiten. Wie könnte man das umsetzen?
Winfried Kretschmann: Das sind gute Ideen, die müssten aber an die Stadt adressiert werden, etwa ein Schwimmbad einen Tag lang für eine Schule zu öffnen. Vergessen tun wir niemand, das möchte ich noch einmal betonen, dieser Eindruck entsteht immer wieder. Wir haben alle Gruppen der Bevölkerung im Auge und kümmern uns darum.
Julia Wege
Leiterin Beratungsstelle Amalie, Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche Mannheim
Wie bewerten Sie das Thema Kinderarmut und soziale Ungleichheit in Baden-Württemberg, und welche erforderlichen Konzepte halten Sie persönlich für notwendig?“
Winfried Kretschmann: Wir müssen darauf achten, dass alle Kinder Aufstiegsmöglichkeiten haben, dass der Bildungserfolg von der Herkunft entkoppelt wird. Das Ziel ist ambitioniert, wenn Sie eine Familie haben, die ihren Kindern jeden Tag vorliest, und eine Familie, wo es gar kein Buch gibt, können Sie das ganz schwer durch die Schule aufheben. Diese Erfahrung machen wir seit ewigen Zeiten. Trotzdem müssen wir das Ziel immer haben, die Bildungsunterschiede zu minimieren. Eines der großen Probleme sind die Ressourcen, der Mangel an Lehrkräften und Erzieherinnen und Erziehern. Wir sind alle mit Engagement und Fleiß dabei, das zu ändern. Meine Partei hat deshalb im Bund ja zum Beispiel die Idee einer Kindergrundsicherung vorgebracht. Im Land können wir kommunale Präventionsnetzwerke fördern. Aber die Politik ist nicht allmächtig, dass sie soziale Unterschiede ausgleichen könnte, ist eine Erwartung, die wir nachher nicht erfüllen können. Letztlich muss man auch sagen, es ist aus der Verfassung heraus primär die Aufgabe der Eltern, sich darum zu kümmern, dass ihre Kinder vorwärtskommen. Nur im Zusammenspiel von Eltern, Kindern und Schule kann es gelingen, mit dem Wunsch der Entkopplung von Bildungserfolg und Herkunft weiterzukommen
Bruno Buschbacher
Betriebsratsvorsitzender Mercedes Benz Werk Mannheim
Die Transformation der Autoindustrie stellt vor allem Bundesländer wie Baden-Württemberg vor große Herausforderungen. Das von den Grünen verlangte Verbrenner-Verbot ab 2030 beschleunigt diese Prozesse. Welche politischen Ideen haben Sie, neue Jobs in der Autoindustrie in der Region zu schaffen?
Winfried Kretschmann: Das Auto der Zukunft ist ein fahrendes Smartphone, da entstehen mehr Arbeitsplätze als vorher. Auch beim Ausbau der Ladeinfrastruktur werden Arbeitsplätze geschaffen. Hier in der Region entsteht mit dem Projekt „H2River“ ein großes Wasserstoff- und Brennstoffzellennetzwerk. Der Wandel vom Verbrennermotor zum fossilfreien Antrieb muss so gelingen, dass es keinen Bruch in der Beschäftigung gibt. Wir können Strukturwandel, aber nicht Strukturbruch. Von konkreten Ausstiegsdaten halte ich im Übrigen nicht viel. Wann man aussteigt, wird man sehen. Der Wandel geht aber auf jeden Fall schneller, als wir anfangs dachten, weil die Industrie selbst merkt, dass die Zukunft in klimaneutralen Techniken liegt. Ich bin zuversichtlich, dass wir am Ende vor Tesla die Nase vorne haben werden. Bei der IT müssen wir noch aufholen, aber Autos bauen können wir einfach besser.
Alexander Sauter
Oberstudienrat und Direktor am Karl-Friedrich-Gymnasium
Die vielen Einschränkungen haben es an Schulen mit sich gebracht, dass gerade die außerunterrichtlichen Aspekte fast ersatzlos gestrichen wurden. Ich nenne als Beispiel die Chöre und Orchester sowie die Theater-und Tanz-AGs. Nicht nur verlieren die Schulen durch die ausgefallenen Aufführungen viel von ihrer Atmosphäre, vor allem wird dieser Bereich auch von den Schülerinnen und Schülern schmerzlich vermisst, die dort nochmals in besonderer Weise ihre Persönlichkeit entfalten können. Was will die Landesregierung unternehmen, diesen Verlust zumindest in Ansätzen wieder auszugleichen?
Winfried Kretschmann: Die außerschulischen Veranstaltungen muss man jetzt einfach wieder machen! Ohne Frage: Für Kinder und Jugendliche ist diese Pandemie ein tiefer und wirklich schmerzhafter Einschnitt. Das ist genau der Punkt, es sind alles Schäden der Pandemie, das ist eben der Effekt von so einem fiesen Virus. Was wir aus meiner Sicht machen müssen, ist, uns in einer Enquetekommission auf Landes- und Bundesebene damit befassen, wie wir Regeln erstellen, damit wir eine Pandemie in Zukunft besser in den Griff bekommen. So wäre beispielsweise denkbar, dass man gleich am Anfang einmal hart durchgreift, um immer wieder neue Wellen und Shutdowns und damit lange Einschränkungen zu verhindern. So machen das Länder wie Neuseeland, die jetzt bei drei Fällen mit der neuen Delta-Variante eine ganze Stadt unter Quarantäne gestellt haben.
Mit Sorge blicken wir in den Herbst und auf eine mögliche weitere Welle. Welche Maßnahmen können und sollen ergriffen werden, um die Schulen so weit wie möglich offen zu halten?
Winfried Kretschmann: Impfen, impfen, impfen. Das ist das wirksame Mittel, um die Pandemie in die Knie zu zwingen. Wir sehen, es tauchen immer neue Varianten auf, die noch ansteckender sind, und wir haben jetzt leider die Botschaft bekommen, dass auch Geimpfte das Virus weitergeben können. Das heißt, wir brauchen enorm hohe Impfquoten, um das in den Griff zu bekommen. Es ist die Stunde der Wahrheit: Wer sich nicht impfen lässt, der wird angesteckt werden, das muss man so hart sagen. Ich kann nur an die Bevölkerung appellieren, sich jetzt, wo wir mehr Impfdosen haben, impfen zu lassen. Nebenwirkungen von Corona sind mit Sicherheit gravierender als Nebenwirkungen von Impfstoffen, aber das muss jeder selbst abwägen. Wir denken nicht über eine Impfpflicht nach. Das sind tiefe Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte, da sind die Hürden hoch. Im Herbst müssen wir an den Schulen mehrgleisig fahren: Neben den bestehenden Bausteinen wie regelmäßiges Testen, Masken, den eingeübten Hygiene- und Schutzmaßnamen und gezieltem Impfen schlagen wir den Kommunen ein Landes-Förderprogramm von 60 Millionen Euro vor. Damit werden wir sie bei der Anschaffung mobiler Lüftungsanlagen und CO2-Ampeln hälftig unterstützen. Uns muss aber bewusst sein: Keine Schutzmaßnahme bietet uns eine Garantie. Luftfilter ersetzen das Lüften nicht.