Rhein-Neckar. Es sind höchst unterschiedliche Gründe, die dazu führen, dass Kinder oder Jugendliche Unterrichtsstunden schwänzen oder gar nicht (mehr) in ihrer Klasse erscheinen. Das Phänomen Schulabsentismus beschäftigt nicht nur Bildungseinrichtungen – auch Jugendämter. Und die können die Justiz einschalten. Der „MM“ führte mit Martin Kast vom Mannheimer Familiengericht ein Gespräch.
Zahlen über Verhandlungen in Zusammenhang mit Schulabsentismus gibt es nicht. Aber: „Schulabsentismus ist für uns ein tägliches Thema“, erklärt der Richter und ergänzt: „Beim Familiengericht landet die Spitze des Eisbergs – wenn nichts anderes fruchtet.“ Grundsätzlich gelte zu prüfen, ob im Sinne des Gesetzes eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Martin Kast weiß nur zu gut, dass es höchst unterschiedliche Hintergründe gibt, wenn ein Mädchen oder Junge dem Unterricht fernbleibt: „Manchmal weigern sich Kinder, in die Schule zu gehen. Und manchmal weigern sich Eltern, ihr Kind in die Schule zu schicken“, umreißt er die Situation.
Letzter Ausweg kann auch das Mannheimer Zentralinstitut sein
Der Familienrichter erzählt von einem Achtjährigen, der zwölf Monate in der Schule fehlte. Auf die Überredungsversuche seiner Eltern hatte er mit Schreien reagiert. In solchen Fällen, so Kast, müsse zunächst herausgefunden werden, warum sich ein Kind mit Vehemenz, manchmal auch voll Panik gegen einen Unterrichtsbesuch wehrt. Das könne mit üblen Mobbing-Erfahrungen zusammenhängen. Wenn hingegen psychische Störungen, beispielsweise soziale Ängste, vorliegen, gelte es, Unterricht verknüpft mit einer Therapie sicherzustellen. Da biete sich das Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) mit angegliederter Schule an: „Das kann aber nur Last Exit sein.“ Der letzte Ausweg.
Schulabsentismus und Hilfsprojekte
- Michael Kast, zunächst Rechtsanwalt, ist seit 2007 Richter und seit 2011 im Familienrecht tätig , das auch die elterliche Verpflichtung regelt, ein Kind in die Schule zu schicken. Der Jurist ist Fachbereichsleiter für das Familien- und Betreuungsgericht in A2,1 (Palais Bretzenheim).
- Der etwas sperrige Begriff Schulabsentismus bezeichnet, wenn Kinder und Jugendliche häufig bis ständig ohne Erlaubnis oder bescheinigte Krankheit dem Unterricht fernbleiben. Studien gehen von einer Quote zwischen fünf und zehn Prozent aus. In Deutschland gibt es seit 1919 eine allgemeine Schulpflicht.
- Initiativen versuchen auch in Mannheim gegenzusteuern . Beispielsweise Das andere Schulzimmer, das durchs Raster gefallene junge Menschen auf einen externen Hauptschul- und Realschulabschluss vorbereitet.
- Die 2. Chance nennt sich ein Projekt des Förderbandes in Kooperation mit dem Interkulturellen Bildungszentrum Ikubiz, unterstützt von Schulamt und Jugendförderung. In drei Projektklassen mit unterschiedlichen Standorten werden Jugendliche jenseits der fünften Klasse wieder ans Lernen herangeführt. Ansprechpartner: Stefan Winkenbach unter 0621/1666122 oder stefan.winkenbach@foerderband-ma.de.
Wie auch immer sich eine Situation darstellen mag: Dem Familiengericht obliegt die Aufgabe, sie auszuleuchten und schließlich zu entscheiden, was für das Wohl des Kindes am besten ist. Martin Kast erinnert sich an eine Familie mit drei Kindern in prekären wirtschaftlichen wie sozialen Verhältnissen. Der Vater trank, die psychisch angeschlagene Mutter war mit dem Erziehungsalltag überfordert. Weil die beiden jüngeren Grundschulkinder wegen ihres Ungepflegtseins gehänselt wurden, wollten sie immer häufiger morgens daheim bleiben – was die Eltern einfach zuließen. Die begabte älteste Tochter hatte es zwar aufs Gymnasium geschafft, vermochte aber in der engen Küche mit viel Trubel nur unzureichend ihre Hausaufgaben zu erledigen. Obendrein musste sie sich häufig morgens um die jüngeren Geschwister kümmern, sodass sich auch bei ihr Unterrichtsfehlzeiten häuften. „Wenn alle vom Jugendamt gebotenen Hilfsmaßnahmen ausgeschöpft sind“, erläutert Kast, dann bleibe nur noch ein Unterbringungsverfahren.
Klar könne ein Kind von Pflegeeltern wieder in die Herkunftsfamilie zurückgeführt werden. „Das kommt vor – aber als Ausnahme“, schildert der Richter. Denn solch ein Beschluss setze voraus, dass sich die häusliche Situation grundlegend geändert hat. Und zwar so, dass die Zukunftsprognose günstig ausfällt.
Mobbing und Angst können Gründe sein – aber auch Misstrauen ins Schulsystem
Dass Mädchen und Jungen der Schule fernbleiben, weil sie Mobbing ausgesetzt sind oder Ängste haben, ist eine Sache. Es kommt aber auch vor, dass Eltern gemeinschaftlicher Bildung keinen großen Wert beimessen oder dem Schulsystem misstrauen. Als „eher selten“ bezeichnet der Familienrichter Ablehnung aus ideologischen Motiven kombiniert mit Beharren auf Heimunterricht. Allerdings sei hier besonders schwer abzuwägen, ob es Sinn macht, ein daheim unterrichtetes Kind aus einer intakten Familie herauszunehmen.
Allerdings dürfe nicht aus dem Blick geraten, betont der Richter, dass nicht nur dem Lernen, sondern auch Einüben sozialer Fähigkeiten eine wichtige Rolle zukommt. Und so hat das Oberlandesgericht Karlsruhe in einem Beschluss vom 25. Januar 2023 ausgeführt: Die Weigerung von Eltern zum Schulbesuch stellt auch dann eine Kindeswohlgefährdung dar, wenn für eine anderweitige Wissensvermittlung gesorgt wird. Schließlich gehe es auch um „die Entwicklung des Kindes zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit“ – zumal wenn, wie in dem Verfahren, außerhalb des engen Familienkreises so gut wie keine sozialen Kontakte bestehen.
Als besonders heikel erweist sich, wenn Vorbehalte gegen das Schulsystem historisch gewachsen sind. Unlängst kam in einem vor dem Mannheimer Amtsgericht verhandelten Prozess eher zufällig zur Sprache: Die aus einer Roma-Großfamilie stammende angeklagte vierfache Mutter hatte nie eine Schule besucht. Die Söhne und Töchter der Mittdreißigerin haben bislang ebenfalls nur sporadisch am Unterricht teilgenommen. Das Warum blieb bei der Verhandlung offen.
Oftmals trägt auch dazu bei, dass sich junge Roma und Sinti an öffentlichen Lernorten Vorurteilen und Ablehnung ausgesetzt fühlen. Nicht von ungefähr haben die Bildungsministerkonferenz und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma am 28. März 2025 erstmals gemeinsame Empfehlungen zur Prävention und gezielten Bekämpfung von Antiziganismus an Schulen vorgestellt. Familienrichter Kast hat die Erfahrung gemacht: „Wenn wir mit Roma- oder Sinti-Familien zu tun haben, die ihre Kinder nicht oder unregelmäßig in die Schule schicken, sind Entscheidungen meist sehr schwierig. Aus äußerst vielfältigen Gründen.“
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Auch Schule muss dazulernen