Stadtgeschichte

Warum Helmut Schmidt 1975 in Mannheimer Eisstadion war

Der populäre Kanzler starb vor zehn Jahren. Ein Meilenstein seiner Karriere war der SPD-Parteitag in Mannheim genau vor 50 Jahren.

Von 
Konstantin Groß
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Kühler Analytiker, brillanter Redner: Bundeskanzler Helmut Schmidt mit charakteristischer Geste: "Da geht's lang!" © Bohnert & Neusch / "MM"-Archiv

Mannheim. 38 ausländische Delegationen kommen nach Mannheim. Darunter viele Regierungschefs, Ministerpräsidenten aus Skandinavien und den Niederlanden, der österreichische Kanzler Bruno Kreisky, François Mitterrand, noch Oppositionsführer in Frankreich, nur fünf Jahre später ebenfalls Staatschef. Unter starkem Polizeischutz der Außenminister von Israel, Jigal Allon.

Einen solchen Aufmarsch an Prominenz wie beim Bundesparteitag der SPD vom 11. bis 15. November 1975, genau vor 50 Jahren, im Rosengarten hat die Quadratestadt davor und danach nicht gesehen.

Sommer 1975: SPD ein Jahr nach Brandts Rücktritt unter Druck

1975. Der Sommer startet kühl: Rudi Carrell bringt seinen Hit „Wann wird‘s mal wieder richtig Sommer?“. Und zwar mit der Strophe: „Schuld daran ist nur die SPD“. Das liegt im Zeitgeist. Im Jahr zuvor tritt Willy Brandt nach der Enttarnung seines Referenten Guillaume als Stasi-Agent vom Kanzler-Amt zurück, bleibt aber SPD-Chef. Nachfolger an der Regierungsspitze wird Helmut Schmidt. Mit ihm gelingt es der SPD, sich langsam wieder zu berappeln.

Geballte Polit-Prominenz im Mannheimer Eisstadion (v. r.): SPD-Vorsitzender Willy Brandt, Österreichs Regierungschef Bruno Kreisky und Bundeskanzler Helmut Schmidt, auch hier wie immer arbeitend. © Archiv

Zugleich wächst ihm ein gefährlicher Gegner heran: der junge Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Helmut Kohl. Der modernisiert die CDU. Im Sommer 1975 feiert sie ihren Parteitag bewusst im roten Mannheim. Eine Kampfansage.

Mannheim blamiert sich mit inaktuellem Stadtplan

Im Herbst also die SPD. Und Mannheim blamiert sich so gut es geht. Die Besucher (400 Delegierte, 800 Gäste, 1.000 Journalisten) erhalten drei Jahre alte Stadtpläne, auf denen die Neubauten im Zuge der Bundesgartenschau nicht verzeichnet sind, also sowohl die Fußgängerzone als auch der Rosengarten selbst fehlen. Doch das merken nur die Einheimischen. Die Delegierten blättern ohnehin lieber im Bildband „Perlen aus den Teppichen des Orients“, den Horst Engelhardt verteilen lässt.

Punkten kann die Stadt mit dem Schloss. Im Rittersaal lädt Oberbürgermeister Ludwig Ratzel die Super-VIPs der SPD zum Essen. Rosengarten-Gastronom Joachim Mayer kredenzt Klößchensuppe, Caseler Rippe in Blätterteig, Roastbeaf englisch gebraten, Geflügelbrust, Kalbsmedaillons, dazu Elsässer Edelzwicker und Schwarzwälder Kirsch. lhr Haupt bettet die Prominenz im „Mannheimer Hof“, in dem die Partei 80 Prozent der zuvor eigens modernisierten 200 Zimmer belegt, das Gros der Delegierten im „Ramada“ in Ludwigshafen.

„Mannheimer Morgen“ druckt Parteitags-Protokolle

Das technische Desaster, unter dem die CDU im Sommer im neuen Rosengarten noch leidet, wiederholt sich bei der SPD nicht. Im Obergeschoss werden geheime Räume eingerichtet. Für Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Standleitung ins Weiße Haus nach Washington und für Verteidigungsminister Georg Leber ein militärischer Führungsstab. Falls ausgerechnet jetzt „der Russe kommt“, wie man damals sagt.

Die Parteitagsprotokolle werden nachts vom „Mannheimer Morgen“ gedruckt, in seinem ebenfalls neuen Druckhaus in der Dudenstraße. So liegen jeden Morgen 400 Exemplare im Format DIN-A-5 mit jeweils bis zu 340 Seiten auf den Tischen der Delegierten. In der Dudenstraße ist auch das Fotolabor für Jupp Darchinger eingerichtet, den Doyen der Bonner Pressefotografen.

Parteitag bringt Wende in der politischen Stimmung

Die SPD hat Mannheim bewusst gewählt. Ihre historische Hochburg soll Kulisse sein für den Wiederaufstieg der gebeutelten Partei. Das gelingt. Helmut Schmidt wird gefeiert. „Und so markiert der Mannheimer SPD-Parteitag eine Umkehr der innenpolitischen Kräfteverteilung, die nicht ohne Folgen für das Land bleiben wird“, kommentiert „MM“-Chefredakteur Hans-Joachim Deckert: „Die SPD ist durch einen inneren Kraftakt und durch die äußeren Umstände zur neuen Kanzlerpartei geworden.“

Doch man will auch ein starkes öffentliches Zeichen setzen. Die Parteitagsregie organisiert eine Großkundgebung im Friedrichspark. Für den 13. November 1975. Um 17 Uhr wird das Eisstadion geöffnet. Da keine Platzkarten ausgegeben werden, rät der „Mannheimer Morgen“ im Vorfeld, früh zu kommen. Das tun dann alle. Am Ende sind es 3.500 Menschen, ein brodelnder Kessel, allerdings in eisiger Kälte.

Für politische Veranstaltungen heute undenkbar: das brechend voll besetzte Eisstadion bei der Parteitags-Kundgebung. © Archiv

In ihr harren die Menschen anderthalb Stunden aus, bis die Kundgebung beginnt. Eine örtliche Band, die Limelight-Combo, soll einheizen. Die Geschwister Angelika und Erich Buck, mehrfache Europa- und Vizeweltmeister im Eistanz, sowie ihre amerikanische Kollegin Mary Ann Helmers vertreiben den frierenden Zuschauern die Zeit.

Polit-Prominenz auf den Zuschauerrängen im Eisstadion

Dann endlich, gegen 18.45 Uhr, ist es so weit. Über einen roten Läufer betreten die prominenten Gäste die Eisfläche. Helmut Schmidt, natürlich mit Prinz-Heinrich-Mütze, kommt bewusst verspätet und genießt sichtlich den Sonderapplaus. Seine Frau Loki nimmt Platz am Podium zur Linken des Landtagsabgeordneten Walter Spagerer.

Herbert Lucy, der Chef der Mannheimer SPD, begrüßt. Mitglieder des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) versuchen mit Sprechchören zu stören, Bereitschaftspolizei führt sie ab, unter Beifall und Rufen des Publikums, die von der höflichen Abgeklärtheit der Mannheimer zeugen: „Naus mit’ne!“

Erster Redner ist Bruno Kreisky, der österreichische Bundeskanzler, der für die ausländischen Gäste spricht, weil er naturgemäß am besten Deutsch kann (wenn man österreichisch als solches bezeichnen mag). Internationalität ist ein Kennzeichen dieses SPD-Parteitags in Mannheim. Das weltweite Ansehen Brandts und Schmidts ist ein Pfund, das man Helmut Kohl voraus hat. Kreisky macht den deutschen Genossen Mut für die anstehende Bundestagswahl. Er fordert die SPD auf, sich auf Arbeiter und Angestellte zu konzentrieren, aber auch um ländliche Regionen zu werben. Ein klares Statement gegen die Intellektuellen.

Schmidt und Brandt von der Menge gefeiert

Bei Helmut Schmidt rennt er damit offene Türen ein. Der Kanzler ist der Star des Abends, wird mit Ovationen überhäuft. 30 Minuten lang doziert er, liefert dabei erneut einen Beweis seiner glanzvollen Rhetorik, deklariert etwa Helmut Kohl als Marionette des „krachledernen“ CSU-Chefs Franz Josef Strauß: „Wir haben nichts gegen Leder, auch nichts gegen Bayern. Aber wir haben was gegen Strauß“, ruft er mit der ihm eigenen, schneidenden Stimme unter dem Jubel des Publikums aus.

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Als letzter spricht Brandt, schon beim Gang zum Rednerpult von „Willy! Willy“-Rufen begleitet. Ein politisches Ausrufezeichen, aber auch Labsal für seine Seele. Denn im Nachgang zur Guillaume-Affäre wird der Friedensnobelpreisträger von der Union immer noch als „Sicherheitsrisiko für Deutschland“ diffamiert; ein Großteil seiner sehr kurzen Rede muss er darauf verwenden, sich dagegen zu rechtfertigen.

Am Ende dankt er für die Gastfreundschaft Mannheims, zeigt sich überzeugt, dass - zu viel der Ehre - dieser Parteitag von 1975 die gleiche Bedeutung haben werde wie jener historische von 1906. Damals grenzen SPD und Gewerkschaften ihre Aufgaben ab: die einen für die Politik, die anderen in den Betrieben.

Am Ende läuft Schmidt doch noch Kohl den Rang ab

Gegen 20 Uhr ist alles vorbei: Vom Friedrichspark ergießt sich eine von viel Polizei eskortierte und begleitete, ewig lang erscheinende Wagenkolonne schwarzer Limousinen mit dem Stern über die Rheinbrücke nach Ludwigshafen. In der Eberthalle findet für die Delegierten und ihre Gäste ein „Pfälzer Abend“ statt. Ganz will man die Pfalz dem Pfälzer Helmut Kohl nicht überlassen.

Bei der Bundestagswahl ein Jahr später verfehlt Kohl mit sensationellen 48,6 Prozent nur knapp die absolute Mehrheit der Stimmen. Dank der Koalition mit der FDP kann Schmidt Kanzler bleiben. Für seine Partei holt er rund 43 Prozent – für die Genossen damals enttäuschend. Für die heutige 15-Prozent-Truppe ein längst unerreichbarer Traum.

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