Hat die Mondlandung technikgeschichtliche Wurzeln in Mannheim? Die Antwort auf diese Frage findet sich in der Biografie des Mannheimer Ingenieurs Julius Hatry (1906-2000). Seit seinem 16. Lebensjahr ein begeisterter Pilot und, wie sich bald herausstellte, begabter Student des Maschinenbaus, war Julius Hatry als junger Mann, kaum eingeschrieben an der Technischen Hochschule (TH) München, bereits an der Konstruktion des damals weltweit größten Segelfliegers und weiterer Flugzeugtypen beteiligt.
1928 erhielt „Uss“, wie er von Freunden und Angehörigen genannt wurde, für die Pläne eines Wasserflugzeugs bei einem technischen Wettbewerb 1200 Reichsmark. Bei Alexander Lippisch, der nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA Deltaflügel für Düsenjets entwickelte, begann der junge Ingenieur, sich mit Raketenantrieben zu befassen – mit durchschlagendem Erfolg: Am 17. September 1929 hob Hatry auf einem Acker in der Nähe von Rüsselsheim in einer Art fliegenden Kiste ab. Er legte 350 Meter in zehn Metern Höhe zurück und setzte das aus Holz gebaute Vehikel, das mit seinen stoffbespannten Tragflächen an ein Segelflugzeug erinnert, sicher wieder auf dem Boden auf.
Dass Hatrys Kollege Wernher von Braun (1912-1977) nur 40 Jahre später eine fliegende Kiste mit Raketenantrieb sogar bis auf den Mond bringen und sie samt Insassen unbeschadet wieder zurück zur Erde holen würde, das hätte Hatry als 22-jähriger Ingenieur und begeisterter, durchaus risikofreudiger Pilot wohl kaum für möglich gehalten. Dass es zwischen Hatrys RAK-1 und von Brauns Saturn V-Rakete aus technischer Sicht nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern durchaus grundlegende Unterschiede gibt, ändert nichts an den Pionierleistungen, die beide auf dem Gebiet des bemannten Raketenflugs leisteten.
Von Braun verstrickte sich mit den Nazis, entwickelte während der NS-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg Waffentechnik. Allerdings erreichten seine A 4- und V 2-Raketen bereits den Weltraum, die Flugkörper waren aber als Waffen entwickelt und als solche zur Bombardierung vor allem Londons und Antwerpens auch eingesetzt worden – mit verheerenden Folgen: 8000 Todesopfer forderten die „Wunderwaffen“. Auch bei der Fertigung der Raketen kamen mehrere tausend KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter ums Leben. Ganz anders die Biografie Hatrys. Er hatte einen jüdischen Großvater, was bereits 1935 dazu führte, dass er in nicht mehr im Flugzeugbau arbeiten durfte. Weil er aber viele Verbindungen und gute Kontakte in der Fliegerszene hatte, überstand Hatry NS-Zeit und Krieg, ohne als Soldat an die Front zu müssen.
Er arbeitete als Kameramann, Regisseur und Produzent in der Filmbranche, drehte für die Luftwaffe Lehrfilme, war als Übersetzer und nach dem Krieg auch als Theaterregisseur und Innenarchitekt tätig. In den 1950er Jahren übernahm Hatry in Mannheim die Immobilienfirma seines Vaters, die er erfolgreich bis zu seinem 85. Geburtstag leitete. Dass er als Ingenieur und draufgängerischer Pilot mitunter sogar mit Neil Armstrong, dem ersten Menschen auf dem Mond, verglichen wird, hätte Hatry wahrscheinlich als Unsinn abgetan. Doch so wie Armstrong beherzt die Eagle-Mondfähre in letzter Sekunde von Hand über die gefährlichen Felsen am Landeplatz hinwegsteuerte, so beherzt schwang sich Hatry 40 Jahre zuvor in sein Raketenflugzeug und legte an jenem 17. September einen sauberen Jungfernflug hin – zwei Wochen, bevor Geldgeber Fritz von Opel den offiziellen Erstflug vor Pressevertretern angesetzt hatte – und eine heftige Bruchlandung hinlegte.
Denn natürlich wollte Hatrys Kiste bei diesem Termin nicht so richtig fliegen. Nach mehreren abgebrochenen Versuchen schaffte von Opel zwar beachtliche 2000 Meter in 80 Sekunden, zerlegte den Gleiter aber auf peinlich unelegante Weise. Hatrys Namen hatte er vorher auf dem Leitwerk der RAK-1 übermalen lassen, die Finanzierung zur Weiterentwicklung stellte von Opel nach dem öffentlichen Debakel ein.
Späte Anerkennung
Als ein weiterer Auftraggeber, Max Valier (1895-1930), bei einem Raketentest in Berlin ums Leben kam, wurden auch die Arbeiten am Nachfolgemodell RAK-2 beendet. Als Kameramann und Skiläufer hatte Uss bereits für die damaligen Filmgrößen Leni Riefenstahl und Luis Trenker sowie den Fliegerhelden des Ersten Weltkriegs, Ernst Udet, gearbeitet. Sie halfen ihm nun, nach dem jähen Ende seiner Raketenflug-Karriere, beruflich neu Fuß zu fassen.
Erst spät fand Hatrys Pioniertat aus Jugendzeiten öffentliche Anerkennung: Die Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt wurde in den 1980er Jahren auf ihn aufmerksam und engagierte ihn als Referenten. Im Technoseum beaufsichtigte Hatry 1990 noch den Nachbau seines RAK-1-Flugzeugs von 1929. Bis kurz vor seinem Tod im November 2000 erläuterte er Museumsbesuchern die fliegende Kiste und ihre Geschichte mit sichtlichem Vergnügen hochstpersönlich.