Wenn sich Wörter wirr anhören, wenn die Begriffe einfach nicht einfallen, wenn die Stimme ständig heißer klingt, wenn der Redefluss ins Stocken gerät, wenn beim Schlucken ein vermeintlicher Kloß im Hals sitzt – dann ist Logopädie gefragt. Weil diese Fachdisziplin weit mehr als Spracherziehung im wörtlichen Sinne umfasst, hat sich der inzwischen 16. europaweite Aktionstag – jeweils am 6. März – das Motto „Vielfalt“ gegeben. Und die reicht von A wie Atemtherapie bis Z wie Zungenfunktionstraining.
- Logopädie bedeutet wörtlich übersetzt Spracherziehung. 1924 führte der Wiener Arzt für Sprach- und Stimmheilkunde Emil Fröschels den Begriff in die Literatur ein.
- Bis sich die medizinisch-therapeutische Disziplin zu einem Fach mit fester Ausbildungsordnung entwickelte, sollten Jahrzehnte vergehen. 1980 erfolgte das deutsche Gesetz zum Logopäden-Beruf.
- Am Freitag, 6. März 2020, dem Europäischen Tag der Logopädie, bietet der deutsche Fachverband eine bundesweite Telefon-Hotline.
- Experten informieren zwischen 17 und 20 Uhr unter 01805/35 35 32 (ein Anruf kostet 14 Cent/Minute aus dem deutschen Festnetz; maximal 42 Cent/Minute aus den Mobilfunknetzen).
Nicole Michelmichel, seit 25 Jahren Logopädin in Mannheim (davon 15 Jahre mit eigener Praxis in der Neckarstadt), freut sich über das aktuelle Thema: „Die enorme Vielfalt ist genau das, was mich an meinem Beruf bis heute fasziniert.“ Die Fachfrau findet „spannend“, dass sie mit Menschen aller Altersgruppen zu tun hat: Säuglinge, die beim Schlucken Probleme haben, gehören genauso dazu wie Erwachsene, die nach einem Hirninfarkt oder einer schweren Kopfverletzung neu die Sprache wie das Sprechen erlernen müssen. Zu ihrer langjährigen Berufserfahrung gehört die Erkenntnis: Eine logopädische Behandlung – ob bei Kindern oder Erwachsenen – funktioniert nur, wenn es gelingt, „mit Feingefühl Vertrauen aufzubauen“ und eine positive Therapie-Atmosphäre zu schaffen, die Patienten zum Mitmachen motiviert.
Claudia Livingston gehört zu jenen Frauen und Männern, bei denen ein Schlaganfall Hirnareal für Sprache zerstört hat: Sie konnte nichts mehr sagen und auch nichts aufschreiben. Nicole Michelmichel arbeitet mit der 60-Jährigen nach einem von der klinischen Linguistin Luise Lutz erarbeiteten Programm, das die vier Modalitäten Sprechen, Verstehen, Lesen, Schreiben aktiviert und deshalb „MODAK“ heißt. Die variablen Übungen anhand von Motivkärtchen sind so aufgebaut, dass sie Begriffe, aber auch Satzaussagen vermitteln und gleichzeitig zur Kommunikation anregen.
Nicht ärgern, kämpfen!
Nicole Michelmichel legt ein Kärtchen auf den Tisch, das einen Bäcker zeigt. Die Patientin soll erst die abgebildete Tätigkeit benennen und dann dem Mann einen Namen geben. „Rudi backt Brot“, sagt die Frau im Rollstuhl. Ihre gedehnte Aussprache verrät, dass sie sich immens konzentrieren muss. Als sie einen Spaghetti-Esser beschreiben soll, kommt zwar recht zügig „Mann isst . . .“ – aber dann kämpft die Patientin mit dem Pasta-Begriff. Und bei der Suche nach einem Vornamen ist sie wie blockiert. „Denken Sie an einen guten Freund“, ermuntert Nicole Michelmichel. Die 60-Jährige nickt, überlegt angestrengt und formuliert schließlich stockend, aber deutlich: „Thorsten isst Nudeln.“ „Perfekt!“, lobt die Logopädin. Später wird die Patientin, ohne zu holpern, „Thorsten isst Spaghetti“ sagen. Zu ihrer Sprechstörung als Folge des Hirninfarktes gehört, dass sie manchmal ein bestimmtes Wort einfach nicht herausbringt, ihr dieses in einer anderen Situation problemlos über die Lippen geht. Auch wenn sich Claudia Livingston noch jede Silbe abringen muss, so hat sie sich gleichwohl in die Welt der Sprache zurückgekämpft.
„Es klappt immer besser“, lobt die Therapeutin. Und wenn mal Ausdrücke durcheinanderpurzeln, dann wird gelacht und aufs Neue probiert. Nicht ärgern und aufgeben, lautet die Devise. Der Lebensgefährte, der zur Therapiestunde mitgekommen ist, erzählt während einer kleinen Pause fürs Zurechtlegen neuer Kärtchen: „Manchmal staune ich, was sie inzwischen wieder sagen kann – auch schwierige und lange Begriffe.“ Gerade dieser Tage habe Claudia Livingston ihm klar verständlich mitgeteilt, dass sie Lust auf „Philadelphiakäse“ habe.
Die 60-Jährige nickt lächelnd und macht sich wieder daran, Botschaften von Bildkarten zu benennen und dabei mit Worten wie Satzteilen zu jonglieren. Die Zeit liegt hinter ihr, als zu Beginn einer Therapiestunde „Guten Tag“ gesungen wurde – weil das Aussprechen einfach zu schwierig gewesen wäre.