Als Mitte März für etliche Wochen die Schulen schlossen, war für Jonas klar: Er hat frei. Schließlich sprachen viele von den „Corona-Ferien“. Und Lernen bedeutet für den Achtjährigen normalerweise: Er sitzt im Zimmer seiner dritten Klasse, vor sich die Lehrerin, neben sich seine Schulbegleiterin. Jonas leidet unter Autismus. Das bedeutet: Er braucht einen klar strukturierten Tagesablauf. Alles muss genau so sein wie immer, damit der Achtjährige klar kommt.
Freie Träger begleiten im Auftrag der Stadt
- Im Auftrag des städtischen Fachbereichs Jugend- und Gesundheit begleiten Integrationshelfer 88 einzelne Kinder im Alltag (Stand 6. Juli).
- Das kann eine teilweise oder aber eine vollumfängliche Schulbegleitung sein und inklusive Pausen mehr als 30 Stunden pro Woche betragen. Bei vollumfänglicher Begleitung sind Kinder nicht in der Lage, Tagesabläufe und Aufgaben selbstständig zu strukturieren.
- Träger der Integrationshilfe sind in Mannheim Arbeiterwohlfahrt, Internationaler Bund, Lebenshilfe, Schifferkinderheim, Reha-Südwest und Verein für Hauspflege und Familienhilfe. Zusätzlich greife man auch auf Träger von außerhalb zurück, teilt die Stadt mit.
Aber mit Corona war nichts mehr wie immer. Und das stellte die Schulbegleiterin vor große Probleme, berichten Fachreferentin Stefanie Reutter und Vorständin Angelika Weinkötz von der Arbeiterwohlfahrt (Awo) Mannheim im Gespräch mit dem „Mannheimer Morgen“. „Von der Schule bekamen Jonas und seine Begleiterin Lernpakete per Mail zugeschickt. Diese sollte er bearbeiten und am Ende jeder Woche an die Lehrerin schicken“, erzählt Stefanie Reutter.
Das gelang erst so nach und nach: „In der ersten Woche hatte die Schulbegleiterin große Schwierigkeiten, ihn zum Arbeiten zu motivieren. Zwar rief sie regelmäßig jeden Tag zur vereinbarten Zeit an, aber Jonas war zum Teil noch nicht aufgestanden oder hatte noch nicht gefrühstückt, weil er für sich verinnerlicht hatte, dass er nicht arbeiten muss.“ Die Mutter wiederum hatte genug mit den jüngeren Geschwistern zu tun und konnte sich nicht permanent um ihn kümmern.
Kontakt über Telefon und Skype
Genau das braucht Jonas aber. Normalerweise gewährleisten das die Schulbegleiter. Solche engmaschigen Betreuungen gibt es in Mannheim knapp 90, wie das städtische Bildungsdezernat auf Anfrage mitteilt. Die Begleiter sind in aller Regel bei freien Trägern tätig und arbeiten im Auftrag des Jugendamts. Neben der Awo sind das in Mannheim Internationaler Bund, Lebenshilfe, Schifferkinderheim, Reha-Südwest und der Verein für Hauspflege und Familienhilfe.
Auch während der Corona-Schließungsphase, so die Stadt, habe man „die Hilfen in vollem Umfang weiter finanziert, auch wenn die Kinder und Jugendlichen zum Teil die Schulen nicht oder nur eingeschränkt besuchen konnten“. Wobei man einen „hohen finanziellen Mehraufwand“ gehabt habe – unter anderem, um bei der technischen Ausstattung aufzurüsten, betont Angelika Weinkötz. Die Begleiter hätten in dieser Phase überdies eher mehr als weniger zu tun gehabt. Die Hilfe habe eben „außerhalb des Unterrichts stattfinden müssen“, so Weinkötz. Und zwar auch in der ersten Zeit, in der wegen des Lockdowns „tatsächlich eine Begegnung nicht möglich war“, berichtet Reutter: „Wir haben versucht, über Skype, Telefon, E-Mail oder Briefe den Kontakt zu halten und eine Begleitung hinzubekommen.“
Das Problem: Wie gewährleistet man die erforderliche engmaschige Betreuung ohne persönlichen Kontakt? „Wie bekomme ich ein Kind an den Schreibtisch, wenn ich anrufe – und es sagt, die nervt“, lautet eine ganz banale Frage. Im Fall von Jonas erstellte die Schulbegleiterin zusammen mit der Mutter „einen durchstrukturierten Tageslernplan. Aufgabe der Mutter war es, tatsächlich nachzuschauen, ob Jonas aufstand – und ihn für die täglichen Telefonate vorzubereiten.“
Ab der zweiten Woche habe die Umsetzung deutlich besser geklappt. Mutter und Begleiterin besprachen vorab die zu erledigenden Aufgaben, die Begleiterin blieb dann in der Regel am Telefon und ließ sich von dem Kind die jeweiligen Aufgaben und das Arbeiten beschreiben und vorlesen.
Ab der dritten Woche hatte die Familie bessere technische Voraussetzungen geschaffen, die Videotelefonie ermöglichten. „Jonas konnte seine Aufgaben direkt in die Kamera halten und auch die Lösungen präsentieren“, so Reutter. Wichtig für das Kind: die Mimik und Gestik des Gegenübers zu sehen. Mit den Lockerungen und allmählichen Schulöffnungen wurde es wieder einfacher. Aber das Fazit für Stefanie Reutter und Angelika Weinkötz ist klar: „Hätte die Begleitung in der Zeit der Schulschließung nicht via E-Mail, Skype oder Telefon stattgefunden, wäre ein immenses, kaum aufholbares Lerndefizit entstanden.“
Dennoch hoffen die Begleiter inständig, dass es ab der kommenden Woche in der Schule wieder halbwegs normal laufen kann – und weitere Schließungen ausbleiben.
Zwar sei man nach den Erfahrungen der letzten Monate „ganz anders aufgestellt“, so Stefanie Reutter. Aber gerade autistische Kinder, deren Begleitung ein Tätigkeitsschwerpunkt der Arbeiterwohlfahrt ist, müssten soziale Kompetenzen mühsam erwerben. Das könnten sie nur, wenn sie mit anderen zusammen sind und dabei individuell begleitet und betreut werden.