Sexueller Kindesmissbrauch

Ein Opfer spricht

Von 
Angela Boll
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Symbolbild zum Thema sexueller Kindesmissbrauch. © imago/Science Photo Library

Mannheim. Er war elf, als der Betreuer anfing, ihn sexuell zu belästigen. Jahrelang ließ er es über sich ergehen. Gemeinsam mit den anderen Opfern lebte er in einer anderen Welt. Sie hielten aus und schwiegen. Bis der Täter aufflog. Ein Opfer berichtet vom Verdrängen und davon, Gefühle wieder zuzulassen.

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Der Betreuer schien ein Glücksgriff zu sein. Für den Verein, für die Eltern und für die Kinder. Alle schätzen sein Engagement. „Ich fand ihn toll“, sagt Mann, der diesem Betreuer über Jahre hinweg ausgeliefert war. Zweimal in der Woche traf er ihn beim Sport, vertraute ihm. Wann und wie die Übergriffe anfingen, kann er heute nicht mehr sagen: „Ich weiß nur noch, dass ich mich gewehrt habe, als er mich das erste Mal küsste.“ Aber es half nichts. „Er redete mir ein, dass es doch gar nicht so schlimm sei.“ Und machte weiter.

Andere vorwarnen ging nicht

Direkt – zum Beispiel mit vermeintlichen Versprechungen – sei er nicht unter Druck gesetzt worden. „Es war eher so, dass er mich manipuliert hat. Ich habe gewusst, wie impulsiv er sein kann, dass er explodiert, wenn er etwas ungerecht findet. Vermutlich hat das eine unterschwellige Angst bei mir verursacht.“ Die Trainingseinheiten wurden bald auf Ausflüge ausgeweitet, Freizeiten mit außergewöhnlichen Sportangeboten, tollen Attraktionen. Manches zahlte der Betreuer auch aus eigener Tasche. „Darauf wollte ich nicht verzichten.“ Die anderen auch nicht. Bald wussten sie voneinander, sprachen aber nicht darüber.

Andere vorwarnen sei nicht möglich gewesen, denn „wenn sie unseren Kreis kamen, waren sie schon gefügig gemacht worden. Es war wie ein Sumpf, in den wir nach und nach reingezogen wurden“, berichtet der Mann, der damals in der Pubertät war: „Eine Scheinwelt. Den Gedanken, dass darin etwas falsch sein könnte, legt man irgendwann ab.“ Der Betreuer baute sich über die Jahre einen Komplex aus Lügen auf. Er gab an, verheiratet zu sein, Kinder zu haben, zeigte Eltern und Schützlingen Fotos von seinen Liebsten. Nichts davon war wahr.

Therapie und Depression

Und der pubertierende Schuljunge? Hat er damals nie gelitten? „Im Nachhinein ja. Aber aus der damaligen Sicht war das mein Leben“, sagt er jetzt. Mit der ersten Liebe und der Volljährigkeit verabschiedet er sich aus Verein. Einfach so. Wie viele sexuelle Übergriffe er bis dahin ausgehalten hatte, weiß er nicht mehr. Aber er kann sich noch genau erinnern, als einige Jahre später plötzlich die Polizei anrief und ihn zu Vernehmung lud. „Ich ahnte, um was es ging. Aber ich wollte nicht darüber reden.“ Der Erste, dem er das Geschehene offenbart, ist der Anwalt, der ihn zur Vernehmung begleitet. Auch die Eltern erfuhren bald, was ihr Kind über Jahre hinweg über sich ergehen ließ. „Aber ich wollte nicht mehr auf die ganzen Fragen antworten. Es war mir zu viel. Es war kaum zu ertragen, sie so verzweifelt zu erleben.“ Er musste Abstand nehmen.

Eine Therapie hatte er zu diesem Zeitpunkt schon begonnen, weil er oft ohne Grund zu weinen anfing. Bis in die Scheinwelt waren sie in den Sitzungen allerdings noch nicht vorgedrungen. Nun das plötzliche, schonungslose Wiedereintauchen. „Über alles reden zu müssen, war brutal. So, als würde ich alles noch einmal erleben.“ Dazu kam die Angst: „Ich dachte, alles fährt gegen die Wand. Meine Ausbildung. Meine Freundin. Meine Familie.“ Aber er wollte es schaffen. Zog den Abschluss durch, während der Prozess lief. Als einziger Betroffener nahm er an den Verhandlungen teil. „Ich hab ihm gegenüber gesessen stellvertretend für all die anderen Opfer, das war meine Absicht. Ich wollte den Mut haben, vor ihm zu stehen.“

Kampf um Entschädigung

Gab es nicht ein einziges Mal das Bedürfnis, laut zu schreien, auf den Angeklagten einzuschlagen? „Nein. Ich bin ein ruhiger Typ. Ich kann auch nicht sagen, dass ich Hass empfinde.“ Und die anderen? Seine Leidensgenossen? Tauschten sie sich jemals aus über die gemeinsame Vergangenheit? „Nein. Ich weiß doch auch nicht, wie ich mit ihnen umgehen soll. Mir geht es da nicht anders als meinen Eltern.“

Er glaubte, dass es mit dem Prozess endlich vorbei sein würde und er alles abhaken könne. „Aber so war es nicht. Es fing an, richtig schlimm zu werden.“ Diskussionen um Schmerzensgeld musste er führen – „es war ein regelrechtes Feilschen mit der Gegenseite“. Dann folgte ein aufwendiges Prozedere um die Opferentschädigung. In Deutschland können Opfer eine Entschädigung beantragen, eine Einmalzahlung oder eine monatliche Entschädigungsrente. Dafür müssen sie sich allerdings von einem Sachverständigen begutachten lassen. Auch er ging diesen Weg. Wieder Fragen. Wieder alles erzählen. Und immer mehr wurde ihm klar, was er aus der Scheinwelt mit in sein jetziges Leben geschleppt hatte. Ohne es zu merken. „Ich musste über Dinge sprechen, die mir überhaupt noch nicht klar waren.“ Bei jedem Gutachtertermin komme es ihm vor, als müsse er sich rechtfertigen. Alle drei bis fünf Jahre wird sein Ist-Zustand neu beleuchtet und überprüft, ob er das Geld noch bekommen darf oder nicht. Zuletzt sei die Summe aufgestockt worden, sagt er. Vorher war es offenbar zu wenig. Eine Nachzahlung gibt es nicht. Die Kostenübernahme für die Reha, die unzähligen Anträge und Behördengänge, immer wieder dieselben Fragen und der Zwang, alle Details berichten zu müssen. „Ich finde es so ungerecht“, sagt er: „Der Täter kommt ins Gefängnis. Er darf eine Therapie machen und alles wird für ihn geregelt - und alles, was danach kommt, wird auch für ihn geregelt. Und ich muss mich wegen allem rechtfertigen. Immer und immer wieder.“

Stabile Beziehung

Es sind nicht die einzigen Ungerechtigkeiten. Der junge Mann leidet weiterhin unter Schlafstörungen und immer noch tauchen die Szenen von früher auf, plötzlich und unkontrollierbar. „Manchmal führen Berührungen dazu, dass ich mich in die Situation von damals zugesetzt fühle. Dann bin ich plötzlich wie gelähmt.“ Seine Beziehung sei stabil, sagt er, aber das Thema Sexualität „nicht einfach“. In einer Therapie habe er gelernt, Gefühle wieder zuzulassen. „Das war ein großer Fortschritt, denn zeitweise war ich regelrecht gefühlskalt.“

Mit seinen Eltern und seinem Bekanntenkreis sei er wieder in gutem Kontakt. Lange sei es schwer gewesen. „Ich mache niemandem Vorwürfe. Darüber will ich nicht nachdenken. Ich blicke nach vorne. Es hätte höchstens punktuell auffallen können“, ist er sich sicher: „Er hat alle so professionell getäuscht. Niemand hat etwas geahnt.“

Wenn er an die Zukunft denkt, träumt er davon, eine Familie zu gründen. „Aber ich habe Angst davor, wie es wird, ein eigenes Kind zu haben. Vielleicht werde ich zu sensibel sein.“ Das Geschehene vergessen könne er nicht: „Es begleitet mich jeden Tag. Manchmal sind es nur Nuancen, manchmal reißt es mich um wie eine Welle.“ Es sei eben etwas anderes als ein Knochenbruch: „Es wird besser, aber es wird nie ganz heilen.“ Bei dem Täter sei es mit dem Absitzen der Strafe getan: „Er fängt nach dem Knast ein neues Leben an. So einfach ist das bei mir nicht. Das habe ich mittlerweile begriffen.“

Redaktion Lokalredakteurin, Gerichtsreporterin, Crime-Podcast "Verbrechen im Quadrat"

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