Schauspiel - Tilman Gersch inszeniert "Judas"

Der Dämon heißt Mensch

Von 
Martin Vögele
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Ludwigshafen. Ein schwarzes Kreuz und eine aufgeschlagene Bibel ruhen auf dem Altar. Daneben brennt das Licht einer Kerze; aber die sengende Hitze, die sie entfaltet, kann nur erahnen, wer den Blick auf die Wand hinter der Flamme richtet, wo flimmernde Schattenschwaden ihren Weg zum Himmel suchen.

Der Mann, der vor dem Altar der Ludwigshafener Martinskirche steht, hat sich als "die Ikone des Verrats" in das Menschheitsgedächtnis gebrannt: Judas, der in Lot Vekemans' gleichnamigem Schauspielmonolog nach 2000 Jahren zurückkehrt ist, um seine Sicht der Dinge erzählen. Von den drei Jahren, die er mit Jesus verbrachte, bis zum Tag, als sie beide kurz nacheinander starben - der eine am Kreuz, der andere von eigener Hand aufgehängt an einem Baum.

Theologisches Dilemma

Die Produktion des Badischen Staatstheaters Karlsruhe ist mit drei Kirchen-Vorstellungen bei den Ludwigshafener Festspielen zu Gast, Regie führt Tilman Gersch, Intendant der Pfalzbau-Bühnen. Schauspieler Timo Tank mimt den Judas, in Freizeitgarderobe, ohne Requisite, wird er einfach reden, rund 75 Minuten lang - und uns dabei ein intensives Theatererlebnis bescheren. "Seit 2000 Jahren versucht die Menschheit, mich zu begreifen", sagt Judas und versichert uns: "Sie hat es nicht geschafft!" Hier steht einer, der, auch wenn er bekräftigt, es gehe ihm nicht um eine Entschuldigung oder Rechtfertigung, nicht anders kann, als die Beweggründe seiner Tat aus eigener Perspektive zu schildern. Er erzählt, wie sie Jerusalem erreichten, den Ort, an dem Jesus "das Königtum" erwartete. Doch "alles woran er denken konnte, war der Tod."

"Ich wollte nicht, dass er stirbt, ich wollte ihn wachrütteln", sagt Judas. "Woher sollte ich wissen, dass so viele Menschen ihm den Tod wünschten, und dass diejenigen, die wollten, dass er am Leben bleibt, sich nicht trauten, den Mund aufzumachen und für ihn zu kämpfen?"

"Wenn hier einer für eure Sünden gestorben ist, dann bin ich dass", presst er wütend hervor. "Ich bin gestorben und habe so alle Schuld auf mich genommen", verweist Judas implizit auf das theologische Dilemma, dass jemand Jesus verraten musste, damit der den Erlösertod sterben konnte.

Timo Tank spielt den Verfemten mit aller zweifelnden Unwucht, Gewalt und Liebe, dem verbittertem Zorn und der empfindsamen Verletzlichkeit eines Mannes, der sich seit 2000 Jahren in eigener Flamme verzehrt, ohne Erlösung zu finden. Der Dämon, der seinem Judas Iskariot innewohnt, heißt Mensch. Eine herausragende Leistung.

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