Hofheim. Zehn Kinder aus dem Großraum Kiew besuchen seit kurzem eine neu eingerichtete Intensivklasse an der Hofheimer Nibelungenschule. Wie deren Rektorin Cornelia Schürer im Gespräch mit dieser Redaktion berichtet, sind die Mädchen und Jungen zwischen sieben und 14 Jahre alt und mit ihren Angehörigen nach ihrer Flucht aus der Ukraine bei Hofheimer Familien untergekommen.
„Manche leben hier bei entfernten Verwandten, andere bei hilfsbereiten Familien. Vor allem die Liebenzeller Gemeinde engagiert sich sehr stark“, berichtet Schürer. Nach den Ferien werde noch ein Kind, das in Biblis untergebracht ist, dazu kommen. „Die Hilfsbereitschaft für die Geflüchteten ist hier in Hofheim wahnsinnig groß“, sagt Schürer. Ihr ist im Gespräch anzumerken, dass sie selbst und auch die Schulgemeinschaft davon angesteckt ist. „Die große Not, die dieser massive Angriff auf die Ukraine ausgelöst hat, trifft uns sehr direkt, und wir alle sind sehr betroffen“, sagt sie und berichtet, wie toll die Hofheimer auf einen ersten Spendenaufruf der Schule reagiert haben.
Einen Ranzen für jedes Kind
Gemeinsam mit den Schülern hatten die Lehrer überlegt, was sie tun könnten, und dann Eltern, Großeltern, Einwohner um die Spende von Ranzen und Schulmaterial für geflüchtete Kinder gebeten, die ja in der Regel mit nur sehr Wenigem in Deutschland ankommen. „Es wurden sehr viele Ranzen gespendet – auch mit Inhalt“, freut sich Schürer. So könne sich jedes geflüchtete Kind, das in die Nibelungenschule kommt, als erstes einen eigenen, neuen Ranzen aussuchen. Das sei für die meisten schon etwas ganz Tolles, ein kleiner Junge sei völlig sprachlos gewesen, als er sich für ein Modell entscheiden sollte.
Mit dem Schulbesuch geht es darum, den geflohenen Kindern wieder ein Stück Normalität, ein wenig Struktur im neuen Alltag in der Fremde zu geben. Denn hier ist eigentlich alles fremd: die Menschen, die Wohnung, die Umgebung, die Schule und vor allem die Sprache in Wort und Schrift. Das ist natürlich ein großes Problem in der Schule, aber die Rektorin staunt, wie gut trotzdem alles klappt. „Wir haben ein Mädchen, das läuft mit den anderen aus seiner Klasse rum, als würde es sie schon lange kennen“, berichtet Schürer. Bei den etwas älteren Kindern klappe die Verständigung mit Englisch recht gut. „Die Grundschüler in der Ukraine haben offenbar mehr Englischunterricht als wir hier“, stellt die Schulleiterin fest.
Kultusministerium schafft zusätzliche Stellen an den Schulen
- In Hessen nehmen laut Kultusministerium bereits mehr als 3300 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine ein schulisches Angebot wahr – Tendenz steigend. Aktuell ist ungewiss, ob und wann sie in ihre Heimat zurückkehren können. Hessen steht wie alle anderen Länder vor der Herausforderung, diese Schüler in die etablierten schulischen Strukturen aufzunehmen und gleichzeitig dem Wunsch vieler Geflüchteter nachzukommen, ihren bisherigen Unterricht aus der Ukraine online fortzuführen, heißt es in einer Pressemitteilung des Ministeriums. Es müsse darum gehen, einen Mittelweg zu finden und neue Angebote zu machen, erklärte Kultusminister Alexander Lorz dieser Tage.
- An allgemeinbildenden und beruflichen Schulen in Hessen gibt es zurzeit rund 1170 Intensivklassen mit 20 000 Kindern und Jugendlichen – nicht nur aus der Ukraine. Ergänzend zu dem bisherigen System sollen die Geflüchteten, deren Schuljahr in der Heimat nur noch bis Ende Mai läuft, mit einem neuen und freiwilligen Sprach- und Kulturunterricht in ukrainischer Sprache unterstützt werden, den Bezug zum ukrainischen Unterricht nicht zu verlieren. Der Unterricht soll von Ukrainisch sprechendem Personal erteilt werden. An welchen Grundschulen dieser neue Unterricht angeboten werden kann, hängt laut Ministerium von den personellen Möglichkeiten vor Ort ab.
- In Hessen hätten sich bereits etwa 170 ukrainische Lehrkräfte, davon mehr als 100 mit Deutschkenntnissen, bei den Schulämtern gemeldet. Neben deutschen Lehrerinnen und Lehrern ist für die Unterstützung der Schulen auch ein Einsatz von ukrainischen Lehrkräften und Personal mit professioneller pädagogischer Erfahrung möglich. Die Schulen und Schulämter sollen im Mai und Juni zusätzliche Stellen für Koordination beziehungsweise Vorlauf- und Intensivkurse erhalten.
Jedes Kind der Intensivklasse – neben den zehn ukrainischen gibt es aktuell auch noch drei Flüchtlingskinder aus Syrien – ist einer Klasse der Nibelungenschule zugeteilt. Montags bis donnerstags werden sie vier Stunden in der Intensivklasse betreut, die restliche Zeit verbringen sie in den regulären Klassen ihrer Altersstufe. In der Intensivklasse geht es vor allem darum, mit der deutschen Sprache vertraut zu werden. „Wir haben gutes Lehrmaterial und Arbeitshefte auf Ukrainisch/Deutsch vom Land zur Verfügung gestellt bekommen“, erzählt Schürer. Doch natürlich gehe es nicht nur ums Lernen. Es werde auch viel gespielt, vergangene Woche hätten die Kinder mit ihrer Betreuerin zusammen Waffeln gebacken – auch so lässt sich Sprache lernen, Gemeinschaft und Frieden erleben. Frieden ist jetzt ein wichtiges Thema an der Schule. „Wir mussten alle erkennen, dass der Frieden, den wir hier in Deutschland jahrzehntelang erleben durften, längst nicht normal ist“, gibt sich Schürer nachdenklich. „Auch unsere heile Welt ist kaputt“, sagt sie und berichtet zugleich von einem Kind, dessen 28 Jahre alter Vater in der Ukraine erschossen wurde. Mit diesen traumatischen Erfahrungen kommen die Flüchtlinge hier an, und alle drumherum müssen lernen, damit umzugehen. Keine einfach Aufgabe.
Homeschooling trotz Krieg
Die Hofheimer Intensivklasse wird aktuell von einer Betreuungskraft begleitet. „Eine ausgebildete Lehrkraft, die am besten auch noch Russisch oder Ukrainisch spricht, suchen wir noch händeringend“, sagt die Rektorin und weiß, dass dieses Problem jetzt nahezu alle Schulen haben, die Kinder aus dem osteuropäischen Kriegsland aufnehmen. Manche geflüchtete Kinder nehmen auch noch am Homeschooling ihrer ukrainischen Schule teil. Das sei allerdings nur noch bis Ende Mai möglich, dann endet dort das aktuelle Schuljahr. Danach sollen die Jungend und Mädchen den Unterricht in Deutschland besuchen.
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Halt und Perspektive